Diverses:Während die Zeit vergeht
Im Erdgeschoss dieses schlichten, von bösen Zungen sogar langweilig genannten Gebäudes mit der Adresse Krugerstraße fünf befanden sich zwei Lokale. Eines von ihnen trug den grässlichen, ja fast schon brutalen Namen „Mama’s Kitchen“ und offerierte viel zu dünne Schnitzel mit letscherter Panier sowie fades Gulasch, dessen Viskosität soweit Idealzustand entfernt war wie der Nahe Osten. Diese überteuerte Kost, die man nur mit göttlicher Güte und drei Achteln Weißwein als passabel bezeichnen konnte, wurde den Gästen dann als authentische Wiener Küche verkauft.
Der Name des zweiten Lokals, das sich im Erdgeschoss von Krugerstraße Nummer fünf befand, lautete Krugers American Bar. Der langgezogene, schlauchartige Gastraum mit seinem dunklen, ausgetretenen Parkettboden und den holverkleideten Wänden war vor allem am Wochenende gut besucht, doch im Gegensatz zum mediokren Nachbarn, der nicht nur de Schnitzel sondern auch die österreichische Küche wie ein grantiger Fleischhauer mit dem Schlegel traktierte, setzte sich das Publikum vor allem aus Wienern, viele davon Stammgäste, zusammen. Einer dieser Stammgäste war der Philosoph und Ästhet Simon Kogitor.
Auch an jenem Abend saß er mit zwischen den Lippen geklemmter Cigarre und gerunzelter Stirn im ausladenden, braunen Ledersessel. Die linke Hand hielt den Rum umfasst, die rechte strich über das glattrasierte Kinn. Es war ohne weiteres erkennbar, dass der Philosoph bedeutsamen Gedanken nachging. Zumindest drängte sich diese Vermutung auf, wenn man den entrückten Blick der braunen Augen sah, die in Falten geworfene Stirn betrachtete, die linke Hand beobachtete, die gedankenverloren das Glas schwenkte.
Ja, wenn man diesen Mann im grauen Anzug mit der schwarzen Krawatte sah, konnte man nur zur Annahme gelangen, dass dieser sich gerade mit großen, vielleicht sogar mit den größten Problemen beschäftigte. Doch dieser Schein trog, denn in Wahrheit war Kogitor nur ein Fingerbreit vom Tagtraum entfernt.
Seine Gedanken kreisten um die Madama-Butterfly-Vorstellung, die er an jenem Abend in der Wiener Staatsoper gesehen hatte, hatten jedoch eine einschläfernde Trägheit aufgesogen, sodass der Philosoph gar nicht merkte wie die Zeit verging. Er schwelgte in seiner inneren Zufriedenheit, die für den Konsum von großer, aber vertrauter Kunst typisch ist, und beschäftigte sich genüsslich mit Rum und Cigarre, insofern ihn seine Gedanken, die an diesem Abend nahezu ein Eigenleben führten, nicht dabei störten. Ihm war, als würde die Zeit, die unnachgiebig verstrich, einfach bedeutungslos sein. Es faszinierte ihn wie Augenblick und Dauer miteinander verschmelzen konnten, wie man im Moment verhaftet zu sein schien, obwohl die Uhr tickte.
Er zog den Vergleich zur Oper, wo Fortschritt und Stillstand zu einer Einheit verbanden, wo die Emotionen von ewiger Intensität zu sein dünkten, während die Handlung dennoch unnachgiebig voranschritt. Kurzum, der Philosoph war weit von intellektuellen Höchstleistungen entfernt, vielmehr trieben seine Gedanken im geistigen Leerlauf dahin, bedacht möglichst wenig vom Aroma der Cigarre und dem Geschmack des Rums zu verdecken.
Kogitor wollte wieder am Glas nippen, wollte sich an der Raffinesse der Spirituose erfreuen, als eine junge Frau, die durch den langgezogene, schlauchartige Gastraum mit seinem dunklen, ausgetretenen Parkettboden zum Tresen ging und sich dann ohne Anflug von Anstrengung auf den Barhocker setzte, seine Aufmerksamkeit erregte. Sie war von kleinem, zierlichem Wuchs, doch ihr gesunder, dunkler Teint und ihr forscher, sicherer Schritt ließen jeden Eindruck von Schwäche verkümmern. Das kräftige Haar, das wie schwarze Seide über die schmalen Schultern fiel, rahmte ihr rundes Gesicht ein. Die großen braunen Augen, die leicht schräg lagen, blickten keck durch die Bar; zwischen ihnen eine kurze Nase mit breiten Flügeln und geradem Rücken. Das leichte Lächeln, welches ihre vollen, roten Lippen formten, signalisierte eine profunde Selbstzufriedenheit.
Kogitor zeigte sich von dieser exotischen Schönheit beeindruckt, maß dieser Reaktion aber keine allzu große Bedeutung bei. Er war nun einmal Ästhet und fand Gefallen am Schönen. So war es doch naheliegend, dass er auch an einer hübschen Frau Gefallen zeigte, bei der nicht nur der Verstand, sondern auch der Penis Euphorie ausbrach, aber der Philosoph versuchte dem Ziehen in seiner Hose nicht zu viel Beachtung zu schenken, denn diese Schwellkörperansammlung, die am Ende seiner Hahnröhre saß, maß sich an nur nach dem Kriterium der Fickbarkeit zu urteilen, und hatte dann für dieses sonderbare Attribut meist nicht einmal hohe Ansprüche.Kogitor wusste, dass er seinem Penis Unrecht tat, indem er die triebhafte Komponenten seines Wesens auf dieses Körperteil schob, aber für einen Mann, der seine Tage damit verbrachte durch Scharfsinn und Geisteskraft die bedeutendsten Problemstellungen der Menschheit zu analysieren, war es eine angenehme und fast schon notwendige Lebenslüge zu behaupten, dass nicht bestimmte mentale Processe, sondern bestimmte Körperteile Schuld an irrationalen oder gar unästhetischen Gedanken trugen.
Außerdem hatte sich der Versuch, triebhafte Elemente stärker in die Wunscherfüllung und Persönlichkeitswahrnehmung einzubinden als nicht sonderlich erstrebenswert erwiesen, wie ein für den Philosophen sowohl prägendes als auch peinsames Ereignis offenbart hatte. Es bestand nämlich das Problem, dass die nicht triebhaften Teile seines Wesens wenig Kooperationsbereitschaft zeigten, sich gar vor den niederen Gelüsten zu ekelten, da moralische wie ästhetische Bedenken und Probleme aufkamen, als es darum ging wildfremde Frauen durch Lügen und Manipulation in ein kurzes, rein sexuelles Verhältnis zu drängen.
Moralische Bedenken verhinderten auch den Besuch eines Laufhauses oder gar des Straßenstrichs, wusste der Philosoph doch über die oftmals verherrenden Arbeitsbedingungen der Prostituierten Bescheid. Darüber hinaus erschien es ihm befremdlich, den Geschlechtsverkehr mit einer Dame zu vollziehen, deren wahren Namen er nicht einmal kannte, auch wenn sie für einen kleinen Aufpreis sicherlich vorgeben würde, wirklich „Pussy Galore“, „Champagne“ oder „Bläschen“ zu heißen.
Es schien, als würden sich die Ansprüche einer humanistisch-abendländischen Erziehung nur schwer mit den rigiden Forderungen eines evolutionär bedingten Sexualtriebs in Einklang bringen lassen, vor allem da letzterer sich nicht um Begriffe – unbedeutend ob a priori oder nicht – wie Liebe oder Menschenwürde scherrte, denn Ziel war einzig und allein die Ejakulation in den weiblichen Schoß, außer mentale oder kulturelle Verschiebungsprocesse bedingten, dass man Gesichter oder Waschmaschinen favorisierte. Erst als der Philosoph durch die Empfehlung eines flüchtigen Bekannten – Einer dieser älteren, übergewichtigen Herren, die man zwangsläufig kennenlernte, wenn man eine Schwäche für gutes und teures Essen gatte - auf Vivienne aufmerksam wurde, kam eine Trieb- und Wunscherfüllung in greifbare Nähe.
Vivienne war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt, hatte brünettes Haar und braune Augen; studierte in Wien, stammte jedoch aus Paris. Kogitor, der selbst ein halbes Jahr in der französischen Hauptstadt verbracht hatte, fühlte sich an eine alte Buhlschaft namens Veronique erinnert – Eine Balletttänzerin, die er während einer Vorstellung in der Oper Garnier kennengelernt hatte, und die mit einer Grazie küsste, mit einer Eleganz stritt, die nur französischen Frauen eigen ist.Auf ähnlich süße Erinnerungen hoffend lud der Philosoph Vivienne ins Café Central, kaufte Karten für das Burgtheater und buchte ein Zimmer im Hotel Imperial. Doch als er an diesem Abend das Kaffeehaus betrat, hatte die einzige Dame, die ein knielanges, schwarzes Kleid mit weißen Punkten trug, so wie es Kogitors ausdrücklicher Wunsch gewesen war, nur geringe Ähnlichkeit mit Vivienne. Irritiert sagte er dem Kellner, dass er einen Tisch auf den Namen Kogitor reserviert hätte. Dieser nickte knapp, deute auf die Dame im gepunkteten Kleid und sah seine Aufgabe damit erledigt, denn er entschwand in die Küche.
Zögerlich näherte sich ihr der Philosoph, wurde dann aber erlöst, als sie fragte: „Herr Kogitor?“ „Quel heureux hasard, Vivienne! J’al l’honneur de me vous présenter, mon nom est Kogitor, Simon Kogitor,“ entgegnete er erleichtert. Vivienne schien im Gegensatz dazu durch diese Frage verwirrt worden zu sein, denn sie runzelte die Stirn und erwiderte:
„Was?“ „Mon nom est Kogitor, Simon Kogitor.“ „Sie müssen schon deutsch mit mir reden, damit ich Sie verstehen kann,“ sagte sie. Kogitor starrte gedankenverloren zum Ausgang, legte das Geld auf den Tisch und erklärte mit kühler Stimme: „Hoc discrimen aestheticae intolerabile est“, als würde ein latenischer Satz den Kommunikationsproblemen ein Ende bereiten.
Dann verließ er das Café, besuchte die Burgtheatervorstellung, genoss ein Salonbeuschel im Gasthaus und verbrachte die Nacht im Hotel Imperial damit sich Dokumentation über den zweiten Weltkrieg auf deutschen Informationssendern anzuschauen. In dieser Nacht, in der er erfuhr, dass Adolf Hitler unter Verdauungsproblemen gelitten hatte, entschloss er sich mit seinem Sexualtrieb so umzugehen, wie es sich all die Jahre bewehrt hatte: Nämlich durch Sublimierung und einem Schuss Verdrängung. Weshalb sollte man den Koitus mit einem Freudenmädchen vollziehen, wenn man genauso gut darüber sinnieren könnte, ob er ethisch vertretbar sei, diese Dienste in Anspruch zu nehmen?
Als Ästhet und Denker bot es sich einfach an, zu hinterfragen, warum man eine bestimmte Dame attraktiv fand, anstatt die triebbedingte Handlungsmotivation beim Versuch Ejakulat in ihren Schoß zu injizieren zu verschwenden. Doch selbst als sich Kogitor diese Erinnerungen ins Gedächtnis rief, schaffe er es nicht seinen Blick von der jungen Frau zu lösen, die im schwarzen Kleid mit weißen Punkten an Bar saß, verträumt mit ihrem dunklem Haar spielte und dabei mit den Fingern ihrer anderen Hand sanft über den Tresen strich. Er konnte sich der Faszination dieser Person nicht entziehen. Er war Knecht jener Faszination, die weit über den sexuellen Rahmen hinauszugehen schien. Vielmehr begann er ganze Lebensentwürfe auf die unbekannte Beauté zu projizieren, sah sich mit ihr am Frühstückstisch sitzen, erträumte gemeinsame Spaziergänge, imaginierte ganze Abende in trauter Zweisamkeit. Sollte dieses Brennen in seiner Brust gar Liebe sein?
Der Philosoph kam nicht umhin diese Frage mit einem zögerlichen Ja zu beantworten, doch die Confessio war nicht sein größtes Problem, denn er hatte keine Ahnung, was nun zu tun war, wie er sich verhalten sollte, welcher Schritt, der erste Schritt in eine gemeinsame Zukunft werden konnte. Ihm waren amouröse Empfindungen nicht fremd, doch bislang konnte er sich immer darauf verlassen, dass die Kunst die Rolle des Kupplers übernahm. Unbedeutend ob Opernvorstellung, Theaterstück oder Skulpturenausstellung; es ließ sich immer auf die Qualität der Darbietung Bezug nehmen, eine pointierte Aussage brach das Eis und das Gespräch konnte beginnen.
Doch was tat man in einer Bar, die der Kuppler Kunst nur selten betrat, um die Kontaktaufnahme in die Wege zu leiten. Es war sicherlich nicht zielführend über die exquisite Auswahl an Spirituosen und deren Aroma zu parlieren, außer man wollte den Eindruck eines – vermutlich vermögenden – Alkoholikers erwecken, wobei sich vor allem der vermeintliche Alkoholismus und weniger das vermeintliche Vermögen im Gedächtnis der neuen Bekanntschaft festsetzen würde.Auch ein Gespräch über das durchaus ansprechende Interieur der Bar, und damit der Versuch den Kuppler Kunst doch zum Eintritt zu bewegen, hätte nur marginal bessere Folgen, denn man kannte offensichtlich mehr als bloß den Boden eines Whiskyglases, hatte andererseits ein so gutes Verhältnis zur Holzverkleidung, dass man sie ausführlich und mit Hingabe beschreiben konnte. Nachdem schon der Blick in die Vergangenheit – oder präzisiert der Blick auf die Illusion, die Kogitor seine Erinnerung zu nennen pflegte – keine Lösung für das Problem offerierte, verfehlte auch die Betracht der Vita berühmter Berufskollegen ihre Wirkung. Es schien fast als würden Philosophen nicht einfach die Liebe finden, sondern regelrecht mit ihr kollidieren und dabei allzu oft bleibende Schäden davontragen.
Er unterbrach seine Überlegungen, nippte am Rum, zog an seiner Cigarre und hoffte, dass, wenn er schon von seinem Verstand im Stich gelassen wurde, eine plötzliche Eingebung, eine spontane Illumination ihm aus seiner Misere erretten würde. Es war sicherlich eine unphilosophische Methode, aber es ging in diesem Fall auch nicht um graue Theorie, sondern um ebenmäßig gewachsene Praxis und kaum ist er sich der Tatsache bewusst geworden, dass es darum ging Aktionen zu setzen, fiel ihm ein, dass er einen Mann kannte, der immer im Akt war, der sich keine Zeit für unnötiges Theoretisieren nahm – außer vielleicht in Moliéres Drama, aber für derartige Überlegungen ließ Kogitor keinen Raum, denn nun war es Zeit zu handeln und er tat dies, indem er theoretisierte wie Don Juan handeln würde.
Es war ein leichtes Unterfangen kannte er die Figur des Don Juan nur zu gut, hatte quasi alle seine alle seine Abenteuer miterlebt, war diesem Mann der Tat an manchen Abenden auf Schritt und Tritt gefolgt. Und weil er ihn so gut kannte, erkannte er rasch, dass selbst dieser Gedankengang keine Hoffnung bot, sondern vielmehr eine Sackgasse darstellte, war doch anzunehmen, dass die Kunst der Verführung sich in den letzten Jahrhunderten weiterentwickelt hatte – Zumindest der Liebesschwur am ersten Abend, immerhin Don Juans liebstes Lockmittel, dürfte seinen Charme verloren haben und heutzutage ein Frauenherz eher verschrecken als öffnen.
Des Weiteren lag es dem Philosophen fern die junge Schönheit zu belügen oder gar zu vergewaltigen, empfand er neben ethischen Vorbehalten auch amouröse Regungen oder glaubte diese zu empfinden – Generell zeigte er sich ob seiner Gefühle verwirrt und wunderte sich, ob die zweite Portion Rindsgulasch beim Nachtmahl vielleicht doch zu viel des Guten war.
Wenn er sich – aus welchen Gründen auch immer – ein Musikdrama Richard Wagners in der Wiener Staatsoper angesehen hätte, könnte er sich seine Verwirrung noch erklären, denn diese Musik löste alle möglichen Zustände bei ihm aus, aber nach einer Madama-Butterfly-Vorstellung dürfte er höchstens eine leichte Heiterkeit gepaart mit etwas Müdigkeit verspüren.
Dieses mentale Chaos ängstigte ihn und die unbekannte Beauté, die allen Anschein ach die Ursache dieser unheimlichen Regungen war, saß keck am Hocker, fuhr mit ihrer linken Hand durch das schwarze Haar und warf von Zeit zu Zeit einen Blick durch die Bar, als ob sie sich ihrer Wirkung auf den Philosophen gar nicht bewusst wäre. Es lag nun an ihm.
Er konnte weiterhin mit gerunzelter Stirn und Cigarre zwischen den Lippen im Ledersessel sitzend gelegentlich die Quelle seiner geistigen Unruhe betrachten, bis einer von beiden ging und spätestens morgen, wenn er mit einer Tasse Earl Grey und einem Stück Sachertorte am Frühstückstisch saß, hätte die Normalität wieder die Oberhand gewonnen; oder Kogitor sprach die Dame an und stellte sich dem Unbekannten – Ein Begriff, der in der philosophischen Tradition von immenser Bedeutung war, aber seinen Namen deshalb trug, weil es bequemer war das Verhüllte nicht zu enthüllen, denn einmal erfahren verlor das Unbekannte sein kennzeichnendes Prädikat, denn es war zum Bekannten geworden und damit im Regelfall entweder ennuyant oder schmerzlich.
Wozu der Wahrheit den Schleier entreißen, sich der Gefahr aussetzen, in die hässliche Fratze der Realiät zu blicken, wenn man in den zierlichen Armen der Illusion liegen könnte, während sie mit zartester Stimme die Lügen flüsterte, derer man sich nicht erwehren wollte, die man ohne Zweifel und Zögern übernahm? Es wäre ein Leichtes gewesen im braunen Ledersessel zu verharren, von Zeit zu Zeit die unbekannte Schönheit anzuschmachten und sich der Vorstellung hinzugeben, sie sei eine Dame von Welt, eine Liebhaberin großer Kunst, deren samtener Lippen in liebevollster Innigkeit die seinen liebkosten.Er begann sogar sich einzureden, dass es gefährlich sei die junge Dame anzusprechen, wobei sie natürlich keine Schuld traf, vielmehr erschien ihm die Liebe per se als Bedrohung für Leib und Leben; und als wollte er einen skeptischen Zuhörer überzeugen, bei dem es sich in Wahrheit um ihn selbst handelte, begann er die unglücklichen Liebschaften aufzuzählen, die er erlebt hatte: Romeo und Julia, Luise Miller und Ferdinand von Walter, Salome und Johannes der Täufer. So viel Leid erwuchs aus der Liebe.
Es wäre eine Tragödie, wenn sich die junge Schönheit in den Fluten ertränke, weil sie es nicht ertragen konnte, dass ihr eigener Vater durch die Hand Kogitors zu Tode gekommen war, da ihn dieser mit dem Mann verwechselt hatte, der wiederum seines Vaters Mörder war. Was, wenn dieses unverfängliche Gespräch, das er im Sinn hatte, dazu führte, dass die unbekannte Beauté am Schafott endete, weil sie der Philosoph getäuscht durch eine allegorische Manifestation seiner triebhaften Komponenten in den Kindsmord getrieben hatte?
Doch mit dem schlimmsten Fall, dass die Dame sich als ganz und gar langweilig oder schlimmer noch ennuyant herausstellen könnte, wollte sich Kogitor gar nicht beschäftigen. Nur kurz verschwendete er einen Gedanken an dieses furchtbare Discrimen aestheticae, um sich augenblicklich von dieser grauenhaften Vorstellung abzuwenden.
„Darf es noch etwas sein, Herr Kogitor?“ fragte der Kellner. Der Philosoph wollte schon verneinen, hatte sich damit abgefunden, seinen Abend in den Armen der liebreizenden Illusion zu verbringen, als er aus einem Impuls heraus entgegnete: „Ich bin zufrieden, hätte aber eine ungewöhnliche Bitte. Sehen Sie diese zauberische Beauté, deren filigrane Finger in einem Ausdruck kultivierter Langeweile sanft, fast einer Feder gleich, über den Tresen streicheln, deren volle, rote Lippen, die selbst Pandora-“ „Ja, ich sehe die Dame. Was ist mir ihr?“
„Teilen Sie ihr bitte mit, dass ich sie auf ein Getränk ihrer Wahl einlade, außer bei diesem Getränk handelt es sich um eines Spirituosen-Softdrink-Gemische, derartige Verbrechen am guten Geschmack unterstütze ich freilich nicht. Den letzten Teil behalten Sie besser für sich. Wir wollen ja nicht wie ein philiströser Bonhomme wirken. Sehen Sie ihn einfach als Zusatzinformation für den Fall der Fälle, wobei ich bezweifle, dass eine Dame, deren Erscheinung von solcher Eleganz ist, ein derartiges Verbrechen-“
„Ist angekommen. Ich sage ihr, dass sie von Ihnen auf ein Getränk eingeladen wird. Nicht mehr und nicht weniger,“ entgegnete der Kellner. Kogitor, dem tausende Einwände und Ergänzungen auf der Zunge lagen, dessen Phantasie im Sekundentakt mögliche Scenarien ent- und wieder verwarf, sah sich angesichts der unzähligen Möglichkeiten, die alle nach ihrer Verwirklichung heischten, die unbarmherzig, allein durch ihre bloße Existenz auf Erfüllung drängten, erdrückt, nur im Stande nonchalant mit der linken Hand zu deuten, dass er nichts mehr zu sagen habe, während seine Stirn tiefe Falten warf und er sich fragte, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Der Escapismus hatte schon seine Hand ergriffen, hatte schon im Sinn, ihn in die Weltverneinung einzuführen, in die Hure aller Träumer, doch er hatte sich gewehrt, sich als Philosoph dem Unbekannten, dem Phänomen zugewandt, sich dem Rätsel versprochen, und obwohl er dies in seinem Beruf ständig tat, war er dieses Mal von quälender Ungewissheit erfüllt – Vermutlich, weil ihm Allgemeinbegriffe im Gegensatz zur zauberischen Beauté kein Leid zufügen konnten. Der Kellner entfernte sich von Kogitor, begab sich hinter den Tresen, wo er die leeren Gläser abräumte.Es schien fast, als wäre ihm sein Auftrag entfallen, als hätte er die Worte, die zumindest für eine Person im Raum von großer, ja eigentlich größter Wichtigkeit waren, einfach vergessen und zwar wie man das Gewäsch eines Verrückten vergisst – nämlich ohne schlechtes Gewissen und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Doch dann richtete die junge Dame selbst das Wort an ihn, wurde aktiv, schritt zur Tat. Mit quälender Hilflosigkeit betrachtete Kogitor, wie der Kellner nickte, um gleich darauf mit gleichgültiger, ja fast schon nonchalanter Geste auf den Philosophen zu deuten, der die Finger seiner linken Hand in die wehrlose Lehne des Ledersessels presste, als könnte diese ihn vor etwaigen unangenehmen Erfahrungen schützen.
Die zauberische Beauté wandte bedächtig ihren Kopf, wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete den generösen Gönner, der krampfhaft versuchte unverkrampft zu wirken. Sekunden später glitt sie con leggierezza vom Barhocker, schritt entschlossen, jedoch ohne Hast auf Kogitor zu und blieb an dessen Tisch stehen, wobei sie die linke Hand in die Hüfte stemmte und den Kopf unmerklich nach rechts neigte, als hätte sie etwas, das der Philosoph gesagt hatte, nicht verstanden.
Einige Augenblicke verharrten beide untätig in ihrer Position – der Man sitzend, die Frau stehend – darauf wartend, dass der jeweils andere den nächsten Schritt machte, bis Kogitor, der nicht wusste, ob die junge Dame angetan oder angefressen auf sein Angebot reagiert hatte und es daher vorzog der Höflichkeit den Vortritt zu lassen, aufstand und mit ausschweifender Geste verkündete:
„Nehmen Sie doch bitte Platz“ „Danke,“ erwiderte sie und ergänzte, nachdem sie gegenüber Kogitor Platz genommen hatte: „Laden Sie häufig junge Frauen auf ein Getränk ein?“
Ihre Stimme war weich, jedoch dunkler als ihre zierliche Statur es vermuten ließ, sodass sie trotz ihres samtenen Klangs leidenschaftlich und vital wirkte. Die sanfte Aussprache der Konsonanten sowie die Dehnung betonter Silben verrieten, dass sie nicht aus Österreich stammte, schenkten ihrem Deutsch einen melodiösen Klang.
Einige Sekunden saß Kogitor ohne Regung im braunen Ledersessel, die Cigarre zwischen die Lippen geklemmt, den Rum in der Hand, den Blick dorthin gerichtet, wo bis vor wenigen Augenblicken nur Wunsch und Phantasie Platz genommen hatten. Sprachlos, ja gänzlich unfähig etwas zu sagen, verharrte der Philosoph in dieser starren Position, während seine Gedanken einem Schwarm ziellos umherirrender Bienen gleich händeringend und mit größter Hingabe, aber ohne Konzept nach einer Lösung suchten, bis sich sein Mund selbständig machte und folgende Antwort formte:
„Nur wenn sie mein Interesse wecken.“ „Gestatten Sie mir meine Frage anders zu formulieren. Geschieht es häufig, dass junge Damen in dieser Bar Ihr Interesse wecken?“ fragte sie kokett und lehnte sich zurück, wobei sie das Gewicht auf den linken Arm verlagerte, sodass sie ihren Körper vom Philosophen abwandte und jenen nun aus den Augenwinkeln beobachtete.
Kogitor zog indes an seiner Cigarre und während sich der nussig-holzige Geschmack des Tabaks auf seine Zunge legte, betrachte er eingehend die Dame, deren Gesicht sich ihm im Profil präsentierte, bestaunte die kleine Hebung des Busens, die sich unter dem weißgepunkteten Kleid abzeichnete, liebkoste die filigranen Beine, die unter dem Saum hervorblitzten, mit seinen Blicken. Kurzum, Kogitor erfreute sich an der Schönheit seines Gegenübers, genoss den Liebreiz seiner Erscheinung und blickte dabei über die kleinen Makel hinweg, die sich ihm zeigten: So war der Mund zu groß, die Kieferpartie trat zu deutlich hervor, eine Narbe verunstaltete den Rücken der linken Hand.Doch ein weiteres Detail, ein äußerst reizvolles Detail fiel dem geübten Blick des Philosophen erst auf, als er den Rauch ausblies und das Aroma des Tabaks in seiner Nase durch den frischen Duft von Orangen abgelöst wurde und versteckt unter diesem Duft nach Orangen fanden sich das erdige Odeur von kräftigem, gesunden Haar sowie ein süßherber Geruch, der an Schokolade erinnerte.
Diese Melange liebreizender Düfte war keineswegs dominant oder gar aufdringlich. Kogitor nahm immer noch den Sandelholzgeruch seines Rasierwassers wahr, bemerkte den öligen Geruch des Ledersessels, fühlte das nussig-holzige Aroma der Cigarre in der Nase kitzeln. Er war sich der Geruchskulisse der Bar vollkommen bewusst, doch jene raffinierte Melange war neu hinzugekommen, musste zur zauberischen Beauté gehören, die sich erst vor wenigen Augenblicken an seinen Tisch gesetzt hatte.
Nachdem der Mann im grauen Anzug die Cigarre in den Ascher gelegt und sich weiter zurückgelehnt hatte, erwiderte er bedeutungsvoll: „Sie sind die erste.“ „Ich nehme an, dass ich mich jetzt geschmeichelt fühlen darf, Herr?“ „Bitte, Verzeihen Sie! Wo sind bloß meine Manieren geblieben? Der Name ist Kogitor, Simon Kogitor. Und ich habe die Ehre mit?“ „Pamina Mundí“
„Sehr erfreut, Fräulein Mundí. Darf man anmerken, dass Ihr Vorname nicht nur ausgesprochen schön, sondern auch passend gewählt zu sein scheint?“ „Weil mein Bildnis bezaubernd schön ist?“ „Ich komme nicht umhin, zugeben zu müssen, dass mir eine derartige Assoziation ebenfalls durch den Kopf ging, aber eigentlich wollte ich auf Ihren Mut anspielen, den Sie zeigten, als Sie das Wagnis des Gesprächs eingingen,“ erläuterte Kogitor und genoss es, dass die Konversation durch seine – wie er fand – geistreiche Anspielung auf die Zauberflöte nun eine Richtung nahm, die ihm als Liebhaber von schönen Frauen und wundervollen Opern nur Freude bereiten konnte.
Vor allem nach der Anstrengung der letzten Minuten, in denen er um Leib und Seele parliert hatte, und zwar ohne gut durchdachtes Konzept, in der naiven Hoffnung, den kühlen Charme Humphrey Bogarts wenigstens ansatzweise erreichen zu können. Nun, da die ersten Worte gesprochen waren, und er sich mit Paminens Mut ein angenehmes Gesprächsthema zu rechtgelegt hatte, begann der Druck von ihm abzufallen, glaubte er, alle Hindernisse und Störungen hinter sich gelassen zu haben.
Dieses Gefühl der Erleichterung, das nur noch unbedeutend kleiner war als seine Schwester die Euphorie, bekam jedoch wenige Augenblicke später dunkle Flecken, als der Kellner just in dem Moment, in dem Kogitor zu einem Satz über die supradivine Musik Mozarts ansetzen wollte, eine Glas auf den Tisch stellte und mit flüchtigen Lächeln ergänzte: „Ihr Whisky Sour, Madame.“, um gleich danach zurück zum Tresen zu gehen.
Pamina führte den Cocktail an ihre Lippen, kostete zögerlich von der dunkelgelben Flüssigkeit, um nach kurzer Pause zufrieden festzustellen: „Ausgezeichnet.“ „Das freut mich zu hören. Ein guter Whisky Sour ist ein Kunstwerk, das nicht jedem Barkeeper gelingt. Aber ich wäre ja nicht hier, falls die Getränke schlecht wären, denn so gelungen die Inneneinrichtung dieser Bar mit ihren wuchtigen Stühlen und dunklem Dekor auch sein mag, sie steht selbstverständlich in keinem Verhältnis zu den Kunstschätzen, die man in den Museen dieser Stadt bewundern kann,“ erwiderte der Philosoph und begann mit diesen Worten seinen Hymnus auf den Whisky und schlug damit eine Erkenntnis in den Wind, die er erst vor einigen Minuten bekräftigt hatte, nämlich, dass derartige Laudationes weniger der Weg ins Herz einer Frau als viel mehr ins Klischeebild des vermögenden Alkoholikers bedeuteten.Er erzählte einfach, war nicht mehr Bogart oder Gable, sondern Simon Kogitor und Pamina Mundí schien daran Gefallen zu finden, denn sie schloss sich den Lobreden an, um ihrerseits von den außergewöhnlichen Qualitäten des venezolanischen Rums zu schwärmen. So entwickelte sich ein Gespräch, bei dem es wegen Kogitors katastrophalen Smalltalkfähigkeiten nicht um plattgetretene Themen wie Wetter, Sport oder die politische Lage in Nordkorea ging. Stattdessen konversierte man über den Genuss und seine Eigenschaften.
Es lag ja auf der Hand darüber zu debattieren, immerhin hatte man gerade erst ein Loblied auf die Qualitäten hochwertiger Spirituosen angestimmt, außerdem war einer der beiden Gesprächsteilnehmer Philosoph, aber auch Mademoiselle Mundí brachte dieser Thematik großes Interesse entgegen, noch dazu machte sie sich einen Spaß daraus die gelegentlich vorkommenden Monologe ihres Gegenübers zu unterbrechen.
So vergingen Zeit und Wort, verflossen Stunden und Minuten, leerten sich Bedenken und Gläser, doch wie der Volksmund weiß, hat alles einmal ein Ende – außer der Wurst. Die hat zwei – und so kam der Zeitpunkt, an dem Pamina Mundí ihre Nummer aufschrieb und sie dem Philosophen reichte, der sich mit einem Handkuss verabschiedete, der sich ein letztes Mal der liebreizenden Duftmelange, die die junge Dame umgab, gewahr wurde und seiner neuen Bekanntschaft mit nüchterner nachblickte, sah wie sie, als würden Anmut und Grazie ihre Stützen sein, zur Garderobe schritt, dort einen schwarzen Damenhut mit ausladender Krempe entgegennahm, um danach in die Wiener Nacht zu entschwinden.
Kogitor wartete einige Minuten, dann verließ auch er die Bar und zwar mit dem Ziel, sich nachhause zu begeben, doch spätestens als er die Kärntner Straße entlangschritt, wurde dieses Ziel ohne adäquaten Ersatz verworfen. Zu wertvoll erschien ihm diese glückselige Nacht, als dass er sie mit Schlaf vergeuden durfte. Trunken durch Euphorie und Alkohol, frei von jedem Plan näherte sich Kogitor einer Dame, die unweit des Donnerbrunnens am neuen Markt stand und die Arie „Caro Nomen“ aus Rigoletto sang, um ihr etwas Geld in den Hut zu werfen, doch rechtzeitig riss ihm die Vernunft den Schleier der naiven Freude aus dem Gesicht und zeigte dieses Discrimen aestheticae auf, das die junge Dame mit dem blonden Haar und der gefühlskalten Stimme beging, erinnerte daran, dass Verdischändung ein ernstes Verbrechen war, selbst bei Personen, die offensichtlich keinerlei Anspruch an den eigenen Gesang stellten.
Also machte Kogitor kehrt und gab das Geld stattdessen bei einem Würstelstand aus, wo er sich eine Käsekrainer und eine Flasche Budweiser kaufte. Nachdem der letzte Bissen Wurst gegessen und der letzte Schluck Bier getrunken war, blickte der Philosoph mit seliger Zufriedenheit in den gestirnten Nachthimmel und lächelte.