Diverses:Der Tod des Verleugnens

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Jeder kennt das. Man ist glücklich und zufrieden. Das Leben läuft, wie es sollte und Sorgen sind zu Problemen anderer geworden, doch dann erdreistet sich ein Verwandter oder Freund einfach ohne Rücksichtnahme zu sterben, den Löffel abzugeben, die Radieschen von unten zu sehen, ins Gras zu beißen, ein Ticket in die Hölle zu lösen, nicht mehr unter uns zu weilen und dieser Person ist es vollkommen egal, ob sie jemanden damit den Tag ruiniert. Sie schickt nicht einmal eine Entschuldigungskarte. Auch ich wurde Opfer eines Vorfalles. Dies ist meine Geschichte:

Zenit der Freude (21.08.)

Der Weg zum Glück heißt Verdrängung. Hungernde Kinder, obdachlose Alkoholiker, perspektivlose Mütter, alles kein Problem. Verdrängen, Stände von Amnesty International meiden und schon tangieren einem diese Probleme nicht.
Ich sitze in meinem schwarzen Ledersessel und blicke auf meine Schreibmaschine, die ich wieder aus dem Keller geholt habe. Ich betrachtete den Zettel und seufze zufrieden. Das Glück strömt aus jeder Pore meines Körpers. Es könnte aber auch der Schweiß sein, da gestern meine verdammte Klimaanlage den Geist aufgab. „Chinesische Wertarbeit“ hat der Verkäufer gesagt. Ich hätte wissen müssen, dass 200 Euro eindeutig zu wenig waren, als dass es sich um eine Qualitätsanlage handeln konnte, aber ich musste unbedient diesen singenden Plastikteletubbie für meinen Neffen haben, den als Geschenk dazu gab. Ich glaube auch, dass die Monteure etwas mitgingen ließen, aber meine Freundin hat die Wohnung mit so viel Nippes vollgestellt, dass ich längst den Überblick verloren habe. Ich atme tief durch und versuche mich zu beruhigen.

Ich bin ein neuer Mensch, der seine Probleme erkennt, sagt zumindest meine Therapeutin. Mein Vater sieht in mir immer noch einen Versager, doch ich bleibe ruhig. Seit Salmas Besuch habe ich das Glück wieder gefunden. Mein Blick gleitet ab und bleibt am Bücherregal hängen. Ich betrachte die Werke von Schopenhauer und Nietzsche, die ich gelesen habe, um meinen Tiefpunkt zu überwinden. Sicherlich nicht die ideale Literatur, doch es hat mir gezeigt, dass es Menschen gibt, die eindeutig schlechter drauf sind oder waren als ich. Voller Stolz erinnere ich mich an die Tage, als ich aus dem Tief, das die Krankheit verursachte, ausgebrochen bin. Ich habe dabei nur das gemacht, was jeder in dieser Situation tun würde. Ich habe zu mir gesagt: „Felix, du bist todkrank und wirst sterben. Am Besten du verdrängst es einfach.“ Ich habe erkannt, dass man problemlos ohne die Wahrheit leben kann. Die Lüge ist viel bequemer. Jeder, der Nietzsches’ Werke gelesen hat, weiß, was Wahrheitsliebe bewirkt. Werde der, der du bist. Was für ein Blödsinn. Ich habe ein bessere Lebensmotto. Werde glücklich. Ich lüge, mache es mir einfach und deshalb bin ich glücklich.

Ich habe eine wunderschöne Freundin, eine große Wohnung und habe einen Beruf, der mir Spaß macht. Ich nippe am Mojito, der auf meinem Schreibtisch steht und grinse. Ich grinse, weil ich weiß, dass es vielen Menschen auf der Welt schlechter geht. Die Tür wird geöffnet und meine Freundin betritt das Zimmer. Sie umarmt mich stürmisch und legt ein Packet, sowie zwei Briefe auf meinen Schreibtisch. Ich küsse ihren Hals, bedanke mich überschwänglich , dann öffne ich das Packet und stelle verzückt fest, dass meine Visitenkarten angekommen sind. Ich betrachte eine. Auf schwarzem Papier steht, mit weißer Schrift aufgedruckt, mein Name, meine Telefonnummer, meine E-Mailadresse und ganz unten steht fett gedruckt: Autor und Philosoph. Mir kommt in den Sinn, dass diese Berufsbezeichnung vielleicht etwas hochtrabend ist, aber von nix, kommt nix. Ich lege die Visitenkarten zur Seite und öffne einen Brief. Eine Literaturzeitschrift wird eine von mir geschriebene Erzählung veröffentlichen. Ich sitze im Sessel und bin die Personifizierung des Glücks, abgesehen von der Tatsache, dass ich nach einem Sturz immer noch auf meinen Gehstock angewiesen bin und mein 40. Lebensjahr vermutlich nicht erreichen werde, doch mit einer geschickten Mischung aus Optimismus und Verdrängung schaffe ich es diese Tatsachen zu marginalisieren. Ich öffne den zweiten Brief. Mein Körper spannt sich an und frage mich, was mein Glück noch einmal steigern wird. Langsam entfalte ich das Papier, um zu merken, dass es sich um eine Stromrechnung handelt.

Schlechte Nachrichten und noch schlechtere Konsequenzen (01.09)

Mein Großvater Scrooge
Ich sitze am Balkon und genieße die letzten Tage des Sommers. Die wärmenden Strahlen der Sonne kitzeln meinen Körper und ich spüre, wie sich eine dünne Schweißschicht an meiner Stirn bildet. Ein Stockwerk unterhalb streitet sich wieder ein Ehepaar. Sie hat ihn mit dem Kindermädchen betrogen. Ich ziehe an meiner Zigarre, seufze und schließe die Augen. Ein Telefon läutet. Meine Freundin Sophie nimmt den Anruf entgegen. Die Balkontür wird geöffnet. Ich inhaliere noch einmal den blauen Dunst der Zigarre, dann sagt Sophie zu mir: „Felix, dein Großvater ist tot.“ Tränen steigen in meine Augen. Ich lasse die Zigarre fallen. Sie bleibt auf meinem Oberschenkel liegen. Ich spüre einen stechenden Schmerz und schreie. Unwillkürlich zucke ich nach hinten und während ich versuche die Zigarre von meinem Oberschenkel zu entfernen, merke ich, dass sich der billige Plastiksessel nach hinten neigt. Plötzlich bricht ein Bein und die Schwerkraft zeigt ihre zerstörerische Kraft. Ich versuche das Schlimmste zu verhindern und mich am Beistelltisch festzuhalten, doch mit katastrophalen Folgen. Ich reiße ihn mit und vernehme, wie das Glas, in dem sich mein Mojito befand, am Boden zerschellt. Augenblicke später schlage ich mit meinem Kopf auf.

Ich liege am Boden und ein kaum erträglicher Schmerz durchflutet meinen Körper. Mein Kopf füllt sich an, als hätte er ein Loch. Als ich verspüre, dass mein Hemd nass ist, bin mir auch nicht mehr sicher, dass mein Kopf heil geblieben ist. Voller Panik will ich meinen Kopf abtasten und schauen, ob dieser ein Leck hat, damit ich im Notfall das Austreten von Hirnmasse verhindern kann, doch ein wohlbekannter brennender Schmerz lässt mich meine Pläne überdenken. Eilig nehme ich die Zigarre, die ein Loch in mein Hemd gebrannt hat, in die Hand und werfe sie weg. Vorsichtig richte ich mich auf und schaue, ob ich den Sturz unverletzt überstanden habe. Kein Loch im Schädel, kein Blut strömt aus der Nase und es tritt keine Hirnflüssigkeit aus meinen Ohren. Ich habe den Sturz ohne Schäden überstanden, wenn man von den durch die Zigarre verursachten Brandwunden absieht. Ich lehne mich gegen Wand und will durchatmen, als ich mich erinnere, welche schreckliche Nachricht diesen Unfall verursachte.

Mit schwächer werdender Stimme frage ich: „Ist Scrooge tot?“ Sophie nickt unmerklich. Ich spüre wie Tränen in meine Augen steigen und mir das Atmen schwer fällt. Mit leiser Stimme sage ich: „Weh und ach, welch Ungemach. Mein Großvater, der kecke Geist, der frohlockende Kapitalist ist tot. Weißt du, was das bedeutet?“ Sophie schweigt. Ich fahre fort: „Es heißt, ich bin arbeitslos und nicht krankenversichert. Meine Liebste, ich bin nicht versichert und muss das Arbeitsamt besuchen. Ich, der jahrelang persönlicher Berater meines Großvaters war, muss stempeln gehen, mich mit Menschen, die Goethe nicht von Schiller unterscheiden können, um einen Job an der Baustelle streiten.“ Sophie verlässt den Balkon und ich blicke auf den Scherbenhaufen, der einmal ein Glas war. Mein Großvater Scrooge ist tot. Ein Mann, der beide Weltkriege überlebt hat, starb einfach ohne Ankündigung. Ein Mann, der sein Geld während des ersten Weltkrieges in den USA machte, beißt ins Gras ohne einen letzten Geniestreich. Ich beginne mich zu fragen, weshalb er starb. Hat er ein Rudel Einbrecher abgewehrt? Ertrank er in einem Geldbad? Hat er zuviel gewusst und wurde vom FBI marginalisiert? Fragen über Fragen, doch ich selbst kann mir keine Antwort nennen." Ich verlasse den Balkon und humple ins Wohnzimmer, wo Sophie sitzt und fernsieht.

Ich frage voller Neugier: „Wie starb Scrooge?“ Sophie blickt mich beschämt an und erwidert: „Er war zugange.“ Es dauert einen Augenblick bis der Groschen fällt, dann entgegne ich mit schockierter Stimme: „Ein Weib hat diesen Mann niedergestreckt.“ „Es waren drei Frauen. Er hat sich drei peruanische Nutten gemietet und hatte, laut Blutbefund, soviel Viagra intus, dass selbst einem Elefanten ein Blutgefäß geplatzt wäre.“

Zu Besuch beim Arbeitsamt (02.09)

Ich bin pleite und suche Arbeit
Voller Argwohn betrachte ich das kleine Gebäude, indem sich das Arbeitsamt befindet. Ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarre und richte die Krempe meines Panamahuts. Einige trockene Blätter werden vom Wind über die Straße getrieben. Ich setze mich in Bewegung. Meine Schuhe klappern auf dem Asphalt. Die Sonne brennt vom Himmel. Ein Schäferhund sucht Schutz im Schatten eines Baumes. Ich spucke noch einmal aus, dann betrete ich das Arbeitsamt. Sofort fällt mir ein Monitor auf, der die Zahl 37 anzeigt. Irgendwo hustet ein Mann. Ein Sessel quietscht. Doch keine Stimmen sind zu hören. Niemand versucht ein Gespräch aufzubauen. Man möchte diese Schande möglichst anonym hinter sich bringen. Egal, wie hübsch die Sitznachbarin oder der Mann in der Schlange ist, man schweigt eisern, denn wer möchte schon seinen Kindern erzählen, dass sich Vater und Mutter im Arbeitsamt kennen gelernt haben.

Neben dem Eingang steht ein extraterestrisch aussehender Apparillo. Ich drücke auf den Knopf. Kurze Zeit später wird eine Zettel ausgespuckt, den ich in die Hand nehme und eingehend betrachte, obwohl nur 204 oben steht. Mein erster Gedanke: Gott hasst mich. Mein zweiter Gedanke: Dafür muss er büssen. Ich stecke den Zettel in die Innentasche meines weißen Leinensakkos und begebe mich zum Kaffeeautomaten. Während ich darauf warte, dass braun gefärbtes Wasser in einem aus giftigen Plastik bestehenden Becher tropft, gesellt sich ein Mann zu mir und erklärt voller Stolz: „Ich mag Frauen, so wie ich meinen Kaffee mag.“ „Mit Milch? In einem Becher? Billig? Kolumbianisch? Schwarz und stark?“ frage ich schlagfertig und nippe selbstsicher an meinem Wasser mit Kaffeefarbe. Wer mich anspricht, muss die Konsequenzen tragen. Der Mann lächelt obszön und erwidert: „Nein, heiß und süß.“ Ich will abwenden, doch überlege es mir anders. Ich werde diesen Idioten demütigen. Ich werde ihn demütige, bis er weinend am Boden liegt und um Gnade fleht. Ich nehme meinen Hut ab und frage in Plauderton: „Was machst du hier?“ „Ich suche nach Arbeit. Lebte vorher einige Jahre in Deutschland, arbeitete in einer kleinen Firma“ „Ich will nicht deine Lebensgeschichte hören, komm zur Sache,“ unterbreche ich ihn unwirsch und lobe mich selbst.

Es war ein genialer Schachzug ihn zu unterbrechen. Das demütigt ihn noch mehr. Der Mann entschuldigt sich kleinlaut und erzählt weiter: „Auf jeden Fall habe ich gut gearbeitet und wollte eine bedeutende Führungsrolle bekleiden. Es gab ein intensives Gespräch, das mit der Ablehnung meines Antrages endete. Als ich nach einer Begründung fragte, wurde mir geantwortet, dass der letzte Österreicher, dem man in Deutschland eine Führungsposition gab, den totalen Krieg ausgelöst hatte. Ich habe dann meine Kaffeetasse genommen, den Inhalt auf den Tisch geschüttet und erklärt: „Wenn ihr den totalen Krieg wollt, könnt ihr Kommunistenschweine ihn haben.“ Dann habe ich den Raum verlassen. Erst dann wurde mir klar, dass es sich nur um einen Scherz handelte. Aber dann war es zu spät. Man hat mich entlassen und auf meiner Kündigung stand, wortwörtlich, Vertrag von Saint Germain. Seitdem suche ich Arbeit.“ Ich blicke ihnan, klopfe ihm verständnisvoll auf die Schulter und sage: „Jeder hat mal einen schlechten-“. Weiter komme ich nicht. Unaufhaltbar zwängt sich ein Lachen durch meine Kehle und bahnt sich seinen Weg nach oben. Ich lasse seine Schulter los, umfasse meinen Bauch und lache. Ich lache aus tiefster Kehle und mit bitterem Spott in meiner Stimme. Der Mann blickte mich eigenartig an und geht einige Schritte nach hinten.

Ich sage: „Es tut mir Leid“. Die Worte sind kaum zu verstehen in meinem Gelächter und sind nur Trug, denn eigentlich tut es mir nicht Leid. Dieser Idiot, der mit peinlichen Blick in die Ecke starrt, hat es verdient ausgelacht zu werden. Doch bevor noch ich mit seiner Faust Bekanntschaft mache, sage ich einfach, dass es mir Leid tut. Lieber Rückgratlos als Querschnittsgelähmt. Der Mann tritt zu mir und räuspert sich. Als ich nicht aufblicke, räuspert er sich nochmals, doch ich lache weiter und tue es mit purer Genugtuung. Er wartet einige Augenblicke, dann schreit er mich an: „Eigentlich sollte ich dir nur diesen Zettel überreichen, doch ich konnte nicht ahnen, dass du so ein verdammtes Arschloch bist.“ Ich höre auf zu lachen und antworte: „Dann gib mir den Zettel, du Idiot.“ Es ist nicht der Konter, den ich mir erhofft habe, doch immer noch besser als nichts zu sagen. Der Mann starrt mich, kramt in seiner Jackentasche und holt einen Zettel heraus, den er mir gibt. Dann verschwindet er, bevor ich noch einmal demütigen kann. Auf dem Zettel steht „Morgen 14 Uhr in der Bahnhofsstraße 3“. Ich schaue auf die Uhr. Es ist 12 Uhr und ich entscheide mich meine Mittagspause zu machen.

Unerwartete Hilfe (03.09)

"Ich mache dir ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst."
Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne scheint. Kleine Schäfchenwolken huschen über den blauen Himmel. Ich trage wieder einen weißen Anzug und ein Panamahut bedeckt meinen Kopf. Ich atmete tief ein und genieße die milde Spätsommerluft. Mir geht es Bestens. Dies ist gelogen. Ich bin arbeitslos. Mein Großvater ist vor Kurzem verstorben und ich leide an einer unheilbaren Krankheit, aber weil ich der Großmeister des Verdrängens bin und heute die Sonne scheint, geht es mir so gut, dass Bäume ausreißen könnte, wenn auch nur Bonsai-Bäume. Non solum cogito, ergo sum, sed etiam neglego, ergo fortunate sum, würde der Lateiner sagen. Ich blicke auf die Uhr. Es ist 13 Uhr 57 und ich stehe vor dem Gebäude mit der Anschrift Bahnhofstraße 3.

Es handelt sich um eine Apotheke. Ernüchtert betrachte die Auslage, in der ein Vitaminpräparat als Jungbrunnen angepriesen und frage mich, ob der Arbeitssuchende, den ich gestern verspottet habe, mich hinters Licht geführt hat. Doch sofort verwerfe ich diese abstruse Theorie und schelte mich selbst dafür, dass ich auch nur einen Augenblick angenommen habe, dass dieser Idiot jemanden wie mir einen Bären aufbinden könnte. Ich blickte mich noch einmal um, dann betrat ich die Apotheke. Sofort stieg der klinische Geruch der Medikamente und des Desinfektionsmittel in meine Nase. Ich hasse diesen Geruch. Er gibt einem das Gefühl unwillkommen und krank zu sein. Während ich zur Verkaufstheke schlendere, fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll. Es wird nicht förderlich sein, wenn ich darauf beharre ein Treffen zu haben, weil mir ein Arbeitssuchende, der meiner Meinung nach genauso gut ein Psychatriesuchender sein könnte, einen Zettel überreicht hat. Wieder keimt in mir die sanfte Pflanze des Selbstzweifels, doch der Stiefel meines Egos zerquetscht sie mühelos. Noch bevor ich etwas sagen kann, werde ich von einer jungen Verkäuferin gefragt, ob ich einen Termin hätte. Unsicher nicke und beginne mich zu fragen, ob mir nicht jemand vorgestern Abend LSD in meinen Mojito geschüttet hat und ich einfach nur halluziniere. Dies würde mich wenigstens von jeglichem Versagen freisprechen. Die Apothekerin gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich ihr folgen soll.

Ich füge mich meinem Schicksal und frage mich, ob ich mein Testament hätte machen sollen. Das Klacken meines Stockes auf dem dem Holzboden war das einzige Geräusch. Voll entzücken betrachte ich die säuberlich verpackten Schmerzmittel, doch bevor mein Speichel Fäden ziehen kann, werde ich durch eine kleine, massive Tür geführt, auf der das Wort Privat geschrieben steht. Mein Ohr vernimmt zarte Geigenklänge. Die Apothekerin, wo bei mir in den letzten Minuten starke Zweifel gekommen sind, ob diese Berufsbezeichnung wirklich treffend ist, bittet mich Platz zu nehmen und erklärt mir, dass ich noch etwas warten müsse. Ich nicke, betrachte den dunklen Holzboden und wundere mich weshalb es so dunkel ist. Während ich warte vernehme ich Stimmen. Eine rauchige Männerstimme sagt: „Du willst, dass ich dir helfe, dass ich deine Tochter räche, doch du zollst mir keinen Respekt. Du kommst her, sagst mir, was ich tun soll, als wäre ich ein gemeiner Verbrecher. Wir sind Freunde, doch nie hast du mich zu dir eingeladen, doch es ist nicht wichtig. Ich werde dir helfen, doch vielleicht, aber wahrscheinlich nie, werde ich dich um einen Gefallen bitten.

Die Tür öffnet sich und ein älterer Mann, tritt heraus und geht an mir vorbei. Ich blicke ihm nach. Dann erklärt mir ein Mann, der einen grauen Anzug trägt, dass ich Eintreten darf. Langsam stehe ich auf und betrete das Zimmer. Es ist dunkel. Durch einige kleine Spalten in den Fensterläden dringt Sonnenlicht herein. Im Raum stehen drei Männer. Es gibt einen Schreibtisch und einen Beistelltisch. Auf dem Beistelltisch steht ein altes Grammophon. Ich nehme Platz und betrachte den Mann, der hinter dem Schreibtisch sitzt. Er trägt einen schwarzen Anzug. Sein Haar ist hell, doch mehr ist im schwachen der Schein der Lampe und dem kaum vorhandenen Sonnenlicht nicht zu erkennen. „Bitte entschuldige meine rauchige Stimme. Seit einem Säureattentat, sind meine Stimmbänder geschädigt. Mein Name ist Vito Coregone und ich kannte deinen Großvater.“ erklärt der Mann. Seine Stimme geht mir durch Mark und Bein. Ich schlucke und spüre, wie mein Puls in die Höhe schnellt, doch ich denke nicht mir die Blöße des Angstzeichens zu geben. Ich rutsche mir meiner Hüfte nähre zu Stuhlkante, werfe meinen linken Arm lässig über die Lehne des Stuhl und meine rechte Hand spielt entspannt mit meinem Gehstock.

Ich atme tief ein und antworte: „Das mit Ihrer Stimme ist nicht weiter schlimm. Mein Onkel hat als Kind einmal WC-Reiniger getrunken und seine Stimmbänder haben sich ebenfalls nicht mehr ganz erholt. Schönes Zimmer. Gefällt mir. Es ist so beeindruckend dunkel. Also was kann ich für Sie tun. Herr Calzone?“ „Nomen mihi Vito Coregone est.“ antwortete er mit kratziger Stimme. Das war zwar kein italienisch, aber sprachlich kam er vermutlich nicht näher an Neapel heran. Mein tief geheuchelt Entsetzen über diesen Fehler bekunde ich mit den Worten :“ Moleste fero.“ Vito nickt leicht, kratzt sich an der Wange und erklärt: „Ich kannte deinen Großvater. Er war ein großer Mann und hat meiner Familie immer geholfen. Zusammen mit meinen Großvater hat er während des ersten Weltkrieges den Grundstein für sein Vermögen gelegt. Dein Großvater hat mich gebeten, falls er stirbt, dir ein Angebot zu machen, dass du nicht ablehnen kannst. Er besitzt eine Modellagentur in Venezuela und möchte, dass du als Berater fungierst. Deine einzige Verpflichtung ist, alle 6 Monate nach Venezuela zu reisen. Die Bezahlung ist gut und die Arbeit leicht. Du musst nur unterschreiben.“ Er öffnete eine Schreibtischlade und holt einen Vertrag hervor. Ich unterschreibe und will aufstehen, als Vito sagt: „Dein Großvater hat dich geschätzt. Er hat gesagt aus dir wird etwas werden. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir sehen, dass du es geschafft hast.“ Mit einem Handzeichen gab er mir zu verstehen, dass ich jetzt gehen solle.

Mausolos-Bestatungen (04.09)

Nebst der Mode wird auch mein Großvater zu Grabe getragen
Ich habe den weißen Anzug gegen einen Schwarzen ausgetauscht, um dem Anlass zu entsprechen. Auch die Bestatterin setzt auf die Aussagekraft der Farbe schwarz, jedoch scheint sie der klassischen Mode abgeneigt zu sein und entschied sich für ein deshalb für unförmiges Kleid, hässliche Schuhe und auffällige Strümpfe. Ihren Kopf bedeckte ein Stoffgebilde, das vermutlich ein Hut sein soll. Die Verkäuferin schüttelt allen anwesenden die Hand, dann beginnt sie: „Es freut mich, dass Sie sich für Mausolos-Bestattungen entschieden haben. Wir bieten verschiedenste Möglichkeit dem Dahingeschiedenen eine würdevolle letzte Reise zu ermöglichen. Schwebt Ihnen schon etwas bestimmtes vor?“ Kurzes Schweigen, dann ergreift mein Vater das Wort: „Wir dachten an eine gewöhnliche Bestattung.“

Ich lache über den Witz, ernte dafür jedoch böse Blicke. Die Bestatterin nickt und erklärt: „Das wünschen sich die Meisten, die zu uns kommen. Momentan sehr beliebt ist die Star-Wars-Bestattung. Hierbei wird der Tote je nach Seite der Macht entweder mit einem Darth-Vader-Kostüm oder einer klassischen Jedirobe bekleidet und danach verbrannt, wie es im Jediismus üblich ist. Selbstverständlich wird ein Jedi bei der Bestattung anwesend sein und wenn es gewünscht wird, können auch einige Wookies oder Ewoks erscheinen. Der Leichnahm wird ihn einem AT-AT oder X-Wing zur Feuerzeremonie gebracht. Diese Art der Bestattung kostet circa 5000 Euro.“ Während ich mich frage, ob eine hausgroße, gepanzerte, vierbeinige Kampfmaschiene nicht etwas mehr als 5000-, kostet und wie man bitte einen X-Wing zum Fliegen bekommen will, zeigt sich der Rest meiner Familie schockiert vom Angebot. Meine Mutter findet als Erste wieder zu ihren Worten und erklärt: „Es tut mir Leid, doch mit dieser geschmacklosen Art der Bestattung können wir nichts anfangen. Wir wünschen uns eine klassische Beerdigung mit anschließenden Leichenschmaus.“ „Star Wars findest du geschmacklos, aber ein Leichenschmaus ist moralisch vertretbar?" werfe ich ein.

Als bekennender Star-Wars-Fan hat mich die Aussage meine Mutter etwas verletzt. Mein Einwurf wird leider ignoriert und die Bestatterin sagt: „Wenn es ihr Wunsch ist, können wir problemlos eine klassische Beerdigung durchführen. Es bereitet uns keine Schwierigkeiten. Wir bieten verschiedene Sargklassen an. Es gibt Komfortsärge, die jedoch teurer sind als die Standardausführungen. Der Unterschied liegt aber nicht nur im Preis. Komfortsärge sind geräumiger und stabiler als die anderen. Falls es gewünscht ist, kann auch ein Betonsarkophag angefordert werden. Dieser wird dann luftdicht verschlossen und der Verwesungsprozess wird verlangsamt. Es gibt auch die Möglichkeit dem Verstorbenen ein Mobiltelefon oder ein Buch in den Sarg zu legen. Lebensmittel oder größere Dinge sind jedoch ausgeschlossen aus diesem Angebot-“ „Herrgott nochmal. Mein Großvater ist tot. Stecken Sie ihn in einfach einen schwarzen Sarg, der gut ausgepolstert ist. Scrooge war Atheist und demnach glaubte er nicht an ein Leben nach dem Tod. Vielleicht wiederhole ich mich, aber wir brauchen nur einen Sarg und keine Wohnung.“ falle ich ihr ins Wort.

Ich bin hungrig und durstig und langweile mich. Mein Großvater hat bezüglich seines Begräbnisses klare Anweisungen gegeben und trotzdem sitze ich hier und höre, dass es Särge gibt, die besser ausgerüstet sind als Wohnwägen. Mein Mutter gibt mir mit einem Blick zu verstehen, dass meine Aussage ein Nachspiel haben könnte. Ich zucke provokant mit den Schultern und betrachte die Bestatterin. Es fellt mir auf, dass sie hübsche Lippen hat. Nach einigen Augenblicken fährt sie fort: „Nachdem die Frage des Sargs geklärt ist, können wir uns anderen Punkten zu wenden. Sie können eine Blaskapelle ordern. Das würde jedoch circa 1000 Euro mehr kosten.“ „Wie viel würde eine Gruppe Rockmusiker kosten?“ frage ich und blicke auf die Uhr. Schon 10 Minuten meines Lebens habe ich mit dem Blödsinn verschwendet. Die Bestatterin blickt mich irritiert und will wissen, weshalb ich Interesse an einer Gruppe von Rockmusikern habe. Ich erwidere, dass die Coverversion einer Blasmusikkapelle von „Another one bites the dust“ oder „Highway to Hell“ scheiße klingt. Meine Mutter wiederum findet meine Ausdrucksweise und Ideen unpassend und fragt mich, was mein Problem sei. Ich antworte, dass ich hungrig bin und ich mich frage, weshalb ich mir diesen Blödsinn antue, obwohl es konkrete Anweisungen meines Großvaters gab.

Zu Besuch bei der Therapeutin (09.09)

"Was glaubens Sie, wollte der Künstler mit diesem Bild sagen?"
Ich ziehe ein letztes mal an meiner Zigarre, dann schnippe ich sie weg und betrete das Ferry-Porsche-Kongress-Center im Zentrum Zell am Sees mit dem Ziel meine Therapeutin zu konsultieren. Vor zwei Tagen erhielt ich nämlich den Anruf, dass der Besuch nicht in der Praxis sondern bei einer Ausstellung erfolgen soll. Ich zwänge mich durch die Menschen auf der Suche nach einer Therapeutin. Eine Servierdame bietet mir ein Glas Sekt an. Ich nehme es an und bleibe vor einem Bild stehen. Während ich zur Erkenntnis komme, dass es so aussieht, als hätte es ein Kleinkind gezeichnet, vernehme ich wie eine Gruppe über die Aussage des Bildes diskutiert. Ich starre angestrengt die Leinwand an. Warte darauf, dass dieser Strichhaufen zu mir spricht und sagte, warum er gezeichnet wurde. Stattdessen werde ich von einer Frau angesprochen, die sich als Erschafferin des von mir betrachteten Werkes ausgibt und meine Analyse hören möchte.

Ich wende mich ihr zu und frage: „Weshalb malen Sie eigentlich wie ein Kleinkind?“ Meine Gesprächspartnerin stemmt die Hände in die Hüfte und erwidert: „Was erlauben Sie sich?. Das ist Kunst.“ „Humbug. Ich habe einen kleinen Neffen, der malt auch solche Strichmännchen. Wenn ich ehrlich bin, gefallen mir seine sogar besser. Seine wirken lebendiger. Der einzige Unterschied liegt darin, dass er seinen Bildern nicht den Titel „Photo einer afrikanischen Familie“ gibt.“ Die Künstlerin zeigt mit dem Finger auf mich, will mich für blasphemischen Worte zurechtweisen, doch meine Therapeutin kommt ihr zuvor. „Felix, hier sind Sie. Ich habe schon befürchtet, dass Sie nicht kommen würden.“ Nach einem kurzen Seitenblick zur verärgerten Künstlerin, fährt sie fort: „Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie netter sein sollen. Ich weiß, dass Sie durch Ihre Gemeinheiten Ihr Ego stärken, doch damit schaffen Sie nur Hass. Es gibt so viele Wege zu Selbstvertrauen zu kommen. Sie müssen keine Menschen beleidigen und deren Werk hinabsetzen.“ Die Künstlerin betrachtet mich mit einem spöttischen Blick und noch bevor ich etwas sagen kann, zieht mich meine Therapeutin mit sanfter Vehemenz weg. Sie trägt einen weißen Panamahut, eine violette Weste und eine Sonnenbrille und in mir verstärkt sich der Eindruck, dass meine Therapeutin so gut mit ihren Patienten kann, weil sie selbst einen an der Waffel hat. „Sie können nicht einfach sagen, dass ich ein Egoproblem habe.“ erkläre ich mit gepresster Stimme.

Meine Therapeutin beißt genüsslich in ein Lachsbrötchen. Nachdem sie geschluckt hatte, fragt sie warum sie nicht einfach sagen könne, dass ich ein Egoproblem habe. „Weil es eine Schweigepflicht gibt,“ erkläre ich, doch sie nickt nur, geht nicht näher darauf ein und bleibt vor einem Bild stehen. Nach einigen Augenblicken fragt Sie: „Was glauben Sie, will der Künstler mit diesem Bild sagen?“ „Mir ist scheißegal, was der Künstler mit diesem Bild sagen will. Vielleicht will er gar nichts sagen, sondern freute sich nur über das Geld, dass er für den Verkauf bekommen würde. Das Bild hält sich wenigstens an eine Schweigepflicht. Im Gegensatz zu Ihnen.“ „Sie sind gereizt. Ist irgendetwas wichtiges geschehen oder passiert?“ fragte die Therapeutin ohne auf meine Anspielung einzugehen. Mein Blick hetzt durch die Galerie auf der Suche nach einem Bild, dass im Entferntesten etwas mit Schweigepflicht zu tun haben könnte, doch ich finde nichts. Einige Augenblicke muss ich dem Impuls widerstehen ein Bild von der Wand zu nehmen und auf meine Therapeutin einzuschlagen, doch als die Zeit überstanden ist, frage ich mich weshalb ich so aggressive Gedanken hege und beschließe meine Freundin zu bitten, mich oral zu befriedigen. „Ist irgendetwas passiert? Gibt es etwas über das sie reden möchten?“ Ich schrecke auf und antworte: „Nein, es ist nichts wichtiges passiert. Mir geht es bestens.“ „Ich habe Ihnen schon oft erklärt, dass es nicht gut ist zu Verdrängen. Abgesehen vom philosophischen Standpunkt, kann sich ihre seelische Last in körperlichen Symptomen manifestieren. Reden Sie über ihre Probleme.“ „Mir geht es bestens. Keine körperlichen Symptome und keine seelischen Lasten.“ „Dies sind meine Worte nicht. Sie sind immer noch auf einen Stock angewiesen, obwohl Ihr Bein wieder vollkommen gesund ist. In meinen Augen ist es ein körperliches Symptom. Ich weiß von Ihrem Großvater. Ich habe es in der Pinzgauer Regionalzeitung gelesen.Mein aufrichtiges Beileid.

Ein Begräbnis für die ganze Familie (11.09)

Wir müssen alle einmal durch des Todes Pforte (Hier symbolisiert durch den Seiteneingang der Zeller Stadtkirche)
Ich steige aus dem Auto aus. Es schüttet wie aus Eimern. In der einen Hand halte ich den Regenschirm, in der anderen den Gehstock. Neben mir steht meine Freundin Sophie. Ich blicke auf die Uhr. Mein Bein schmerzt und mir ist langweilig. Hätte sich mein Großvater für eine Feuerbestattung entschieden, wäre diese ganze Veranstaltung schon vorbei. Die Band spielt „Highway to Hell“ von AC/DC während der Sarg meines Großvater aus dem Leichenwagen geladen wird. Der Platz vor der Kapelle füllt sich mit trauernden Gästen und ich beeile mich in die Kapelle zu kommen, damit ich einen guten Platz ergattern und die Show genießen kann. Das Gotteshaus beginnt sich langsam zu füllen. Etwas zu langsam für meinen Geschmack.

Nach einer Ewigkeit beginnt ein Priester sein Programm runter zu spielen. Beeindruckend lustlos und demotiviert sagt er die wichtigen Worte. Er war wirkte fast so genervt wie ich. Während mein Vater eine einschläfernde Rede hält, frage ich mich, warum mein Großvater den ganzen Schnickschnak wollte. Er ist tot, da kann es ihm als bekennenden Atheisten egal sein, was man mit seiner Leiche anstellt. Während mein Vater erzählt, wie Scrooge zu Reichtum kam, denke ich mir einen Witz aus, denn ich sofort meiner Freundin erzähle: „Ich bin mir todsicher, dass ich Scrooge nie mehr sehen werde.“ Ich kichere heiser, doch meine Freundin straft mich mit einem bösen Blick. Ich beschließe ihn nicht zu beachten und stelle mir die Frage, warum Menschen soviel an einer Beerdigung liegt. Als ich eine Antwort auf meine Frage gefunden habe, blicke ich mich in der Kapelle um. Alle Plätze sind besetzt, sogar meine verstoßene Schwester ist anwesend. Sie hat vermutlich vom Leichenschmaus gehört und ist deshalb gekommen. Ich blicke auf die Uhr. Der Sekundenzeiger quält sich vorwärts. Mir ist todlangweilig. Ich lausche wieder dem Priester, doch seine Worte vermögen es nicht mich in ihren Bann zu ziehen und ich komme zum Schluss, dass sogar mein Großvater lebendiger wirkt. Doch alles jammern hilft nichts.

Je länger die Zeremonie dauert, desto mehr abstruse Ideen keimen in meinen Kopf. Die Intelligenteste ist die Frage, weshalb ein Toter den Lebenden Zeit stiehlt. Nach einer Stunde, einer besonders langen Stunde, ist das Ende der Zeremonie gekommen und die Menschen strömen hinaus auf den Friedhof. Die Band spielt „Hell ain't a bad place to be“ von AC/DC. Ich muss wieder den Regenschirm aufspannen. Während ich dem Sarg folge, stelle ich mir vor, was ich hätte alles tun können. Ich hätte fernsehen können. Ich hätte schlafen können. Ich hätte mit meiner Freundin schlafen können. Ich hätte lesen können. Ich hätte essen können. Ich hätte aus dem Fenster springen können. Ich hätte soviel tun können, doch stattdessen stehe ich im Regen und warte darauf, dass eine Leiche verbudelt wird. Ich spüre, wie in mir die Wut aufsteigt, die ich nur mühsam kontrollieren kann. Doch ich schaffe und lausche nochmals zahlreichen, kurzen Ansprachen und wundere mich wie viele Euphemismen es für sterben gibt. Man lernt nie aus. Nebenbei entschließe ich mich in meinem Testament dafür zu sorgen, dass ich niemand mit zu langen Begräbniszeiten nerve. Nach drei Stunden ist alles vorbei. Die Menschen verlassen den Friedhof, doch ich bleibe noch als Einziger am Grab stehen und ärgere mich darüber, dass so viele Blumen die Grabplatte bedecken, doch ich ahne, dass dies nicht der einzige Grund meines Verweilens ist.

Licht am Ende des Tunnels (15.09)

Die Nacht bricht ebenso...
...wie die Zeit der Erkenntnis an.
Ich sitze in meinem Sessel und blicke aus dem Fenster. Es ist kalt geworden. Die ersten Blätter beginnen sich zu verfärben. Seit einigen Tagen treibt mich eine Unruhe. Sie lässt mich kaum schlafen oder einen klaren Gedanken fassen. Mit meiner Hand streiche ich über den Oberschenkel, der schmerzt und trotzdem vollkommen gesund ist. Mein Kopf pocht und ich ahne, dass die Zeit des Verdrängens zu Ende ist. Ich spüre das geschwollene Ende meiner philosophischen Doktrin, doch ich will es nicht wahrhaben. Mit letzter, mentaler Kraft klammere ich mich an das Vergessen, an das Verdrängen, doch die Dämme sind kurz vorm Bersten. Ich spüre den bitteren Hauch der Erkenntnis, der um meine Knöchel weht und fühle die Probleme, die nach Aufmerksamkeit schreien, doch ich will es nicht wahrhaben und deshalb sitze ich in einem Sessel. Meine rechte Hand hält einen Mojito. Im Aschenbecher glüht die Zigarre vor sich hin. Ein letztes Mal das Lebensgefühl der Verdrängung genießen. Quietschen reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke nach rechts, wo sich Sophie in den Sessel setzt, den sie zum Fenster geschoben hat. Wir blicken uns einige Augenblicke an, dann sage ich: „Mein Großvater ist tot, meine Liebste.“ Ich habe es geschafft. Ich habe realisiert, dass mein Großvater tot ist. Einfach so habe ich es gesagt. Sie schaut mich eigenartig an und erwidert: „Ich weiß, dass dein Großvater tot ist. Ich war auf seinem Begräbnis.“ „Ich habe es erst jetzt begriffen. Mein geliebter Großvater ist tot.“ Sophie starrt mich irritiert an.

Ich nippe an meinem Mojito. Ziehe an meiner Zigarre, dann erkläre ich: „Meine Liebste, ich habe geglaubt, dass sich Probleme durch Verdrängung lösen lassen. Ich habe nicht akzeptiert, dass mein Großvater tot ist und ich habe nicht akzeptiert, dass ich in zwanzig Jahren tot sein werde. Ich habe die verraten, die mich lieben, indem ich sie verleugnet habe, doch noch schlimmer ist, dass ich mich verleugnet habe. Ich bin zu einem Opportunisten geworden und habe meine Werte und Ideen meiner Bequemlichkeit untergeordnet. Ich bin sogar soweit gegangen, dass ich mein Leid verdrängt und ihn Spott umgewandelt habe.“ Sophie nickt und blickt auf Zell am See hinaus. Nach einigen Minuten fragt sie: „Was wirst du jetzt machen?“ „Ich weiß es noch nicht genau. Auf jeden Fall möchte ich meinen ersten Roman schreiben. Ich habe in meinem Leben noch nichts erreicht. Ich bin ein Mann mit großem Ego, dessen Fundament in Sand gebaut ist. Ich möchte in meinem Leben etwas erreichen,“ erkläre ich und nippe an meinem Mojito. Sophie erwidert: „Du hast Salma Hayek getroffen. Ist dies nicht auch ein respektabler Erfolg?“ „Nein, ist es nicht. Ich habe Salma nicht einfach nur getroffen. Ich habe um ihren Besuch gebeten und dies mit meiner Krankheit begründet. Es war nicht die Folge einer herausragenden Leistung, sondern vielmehr Folge einer unheilbaren Krankheit. Auch wenn das Treffen sehr schön war, ist es nicht rühmlich, wie es dazu kam,“ erkläre ich und denke nach. Ich hätte studieren können. Ich hätte Schriftsteller werden können, doch stattdessen ist aus mir jemand geworden, der sich vor der Wahrheit versteckt. Eine wahrhaft erbärmliche Person ist aus mir geworden. Ich beschließe von nun an ehrlich zu sein und stehe auf. „Wohin gehst du?“ fragt Sophie. Ich antworte: „Ich gehe zum Grab meines Großvaters.“

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