Diverses:Abendessen vom Chinesen

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Rüdiger hatte von Aschermittwoch bis Ostern gefastet. Nein, nicht Fleisch! Es sollte ja schließlich keine Folter sein. Wichtig war ihm nur die persönliche Erfahrung, wie es sich anfühlt, auf etwas verzichten zu können.
Er hatte auf etwas viel spezielleres verzichtet. Etwas, das zu jeder Lieferung vom Chinesen dazugehört. Etwas, worauf zu verzichten auch schwer fiel, worauf in Rüdigers Familie eigentlich jeder neugierig war: Glückskekse. Und zwar nicht nur die Kekse selber - nein, auch die Zettel hat er nicht gelesen. Diese erzieherischen, zukunftsweisenden, weltverbessernden Ratschläge, die oft in einer leicht gestelzten Sprache daherkommen. Schließlich werden Glückskekse und ihre Zettel in einer Firma in Baden-Württemberg ("Wir können alles außer hochdeutsch.") hergestellt. Geheimnisvoll verborgen in einer kunstvoll geschwungenen Faltoblate schenken einem die Weisheiten einen kleinen Moment der Andacht, der Erkenntnis oder der Demut.
Die Familie hatte ihn für diese in ihren Augen sinnfreie Selbstkasteiung belächelt. Die tiefere Bedeutung hinter der persönlichen Herausforderung erkannten weder die Frau noch die beiden Töchter. Schließlich öffneten sie den Glückskeks (wenngleich ihn meist niemand aß) oft schon vor der eigentlichen Mahlzeit, um zu wissen, welchen guten Rat das mächtige fremde Orakel ihnen geben würde, welche Richtung ihnen das allwissende Glutamathoroskop weisen mochte. Sie hatten halt ihre Neugier nicht im Griff, diese emotionsgesteuerten Weiber.

Glückskekssprüche

Nun war Ostern vorbei und wieder war einer dieser Abende, an denen Rüdigers Frau keine rechte Lust auf's Kochen verspürte. Nach einem anstrengenden Arbeitstag und dem Papierkram zu Hause war ihr jetzt nach einer leckeren "Ente süß-sauer" frei Haus. Rüdiger und die Mädels waren natürlich einverstanden. Schließlich war es schon halb sieben und mit den Kreationen vom Asietten-Asiaten des Vertrauens gab es bisher noch nie größere Probleme. Leider dauerte es diesmal noch eine volle Stunde, bis es an der Tür gongte und die freundliche "Frau Miagi" (...die sehr wahrscheinlich nicht wirklich so heißt, aber auszuschließen ist es auch nicht...) das Abendmahl brachte. Vielleicht war ja das Auto in der Werkstatt, sodass sie vorübergehend mit dem Rad ausliefern musste. Während Rüdiger diesem Gedanken nach hing wurden die Kinder zu Tisch gerufen und man fing an zu essen.

Natürlich wurden, dank der weiblichen Multitaskingfähigkeiten, beim Essen die ersten Glückskekse aufgemacht. "Prima! Sie haben mal wieder die besten Vorschläge." Las die Frau ihren Spruch vor und fühlte sich sogleich bestätigt in ihrer Wahl, den asiatischen Bringdienst bemüht zu haben. Mit nachdenklichem Gesicht wandte sie sich an ihren Mann: "Fastest du eigentlich noch?" "Nein! Ostern ist vorbei." Sagte der. "Na dann mach doch mal deinen Keks auf!" Schlug sie vor. Er war hungrig. "Darf ich erst mal essen?!" raunzte er zurück. Sie hatte die China-Entscheidung extra solange hinausgeschoben, bis es keine Alternative mehr gab. Und da beim Chinesen heute offenbar mehr los war als erwartet, war jetzt die gewohnte Abendbrot-Zeit schon eine Dreiviertelstunde überschritten. Ihm war also nicht nach Firlefanz.

"Heute wendet sich Blatt zum Guten." wurde der Jüngeren da beschieden. Sie aß grübelnd weiter. Wer weiß schon, welches Blatt gemeint war. Die Mathearbeit? Eine 5 ist eine 5, da kann man das Blatt wenden, wie man will. Na gut: Wenn man die 5 auf den Kopf stellt und dann noch spiegelt, wird sie zu einer Art 2 und "zwei" heißt "gut". Aber diese schwäbischen Chinesen meinten sicher was anderes. Nun las die Große ihr Orakel vor: "Arbeit hat bittere Wurzeln, aber süße Frucht." Ein ratloser Blick begleitete die folgenden Kauvorgänge bis sie fragte: "Was für 'ne Frucht?" "Na, jeden Monat Geld auf deinem Konto!" Sagte der Vater mit einem Klang in der Stimme, der mehr von seinem Unverständnis über soviel Begriffsstutzigkeit verriet, als er sollte. "Ach so." begann die Jungfacharbeiterin zu verstehen. Der Vater versuchte sein fürsorgliches Verständnis wiederzufinden.

"Krack!" Ein plötzlicher, sehr intensiver Schmerzimpuls, begleitet von einem ganz gemeinen Geräusch der Zerstörung (,das aber vermutlich nur in seinem Kopf so laut zu hören war) ließ Rüdigers Kauwerkzeuge auf der Stelle erstarren. Nach einer kurzen Weile brachte er ein hartes Etwas hervor. Einen Kieselstein oder eine Scherbe, in der Größe einer Linse, schwarz und scharfkantig. Der Fremdkörper musste aufgrund irgendeines Missgeschickes in der stressgeplagten Küche in die Soße gelangt sein. Er musste alles ausspucken, sich den Mund ausspülen. Erschrockene Blicke bei den Damen. Er setzte sich wieder. Durchatmen. Der Schmerz war wieder weg und alle Zähne waren offenbar noch heil. Aber jetzt war da diese Angst. Die Angst, dass da noch mehr ist. Er schob das Essen weg. "Trink' ich eben ein Bier mehr." Rüdiger war satt. Er fragte sich, warum eigentlich immer ihm so was passierte: Nelken im Rotkraut, Pfefferkörner in der Soße, Eierschale im Rührei. Ein Fluch? Schicksal? Pech? Oder war es einfach nur Zufall? Blödsinn! Er aß vorsichtig wenigstens das Fleisch: Ente gebacken, kann man ja nicht wegwerfen - so lecker, wie das schmeckt. Den trockenen Reis bekam er ohne die Soße und das Gemüse natürlich nicht hinunter.
Er machte sich ein neues Bier auf. Er versuchte seine Mitte wiederzufinden. Es war ja nichts schlimmes passiert.

Vorsicht, in ihrem Essen ist ein Kieselstein.

Nachdem er sich allmählich von seinem Schock erholt hatte nahm er sich seinen Glückskeks. Dieses Mal würde er ihn wohl essen müssen, auch wenn er davon noch immer nicht satt werden würde. "Was steht wohl auf dem Zettel?" sinnierte die Frau. Typisch Frau,... dachte Rüdiger ...anstatt abzuwarten und zu lesen, rätselt sie vorher rum. "Wenn da jetzt steht: "Vorsicht in ihrem Essen ist ein Kieselstein."..." witzelte sie, "...dann stimmt mein Spruch. Ich hab' nämlich schon vor dem Essen gesagt, du sollst den Keks aufmachen."
"Ja, ja, du hast immer die besten Vorschläge." zitierte Rüdiger ihr jüngstes konfuzianisches Lebensmotto. Dann zerbrach er das filigrane Backwerk und zog den Zettel hervor. Er las laut vor: "Derjenige, der den Berg versetzte, begann mit einem kleinen Stein."
Na, jedenfalls ging es um einen kleinen Stein. Hatte sie also - in ihren Augen - wieder mal Recht behalten, jedenfalls teilweise. Und verblüffender Weise traf der Spruch im weitesten Sinne wenngleich nicht ins Schwarze, dann zumindest in die Nähe. Aber die Kekse vor dem Essen zu öffnen, das gewöhnte Rüdiger sich deshalb noch lange nicht an.
Er erinnerte sich an einen früheren Glückskeksspruch: "Verzeihen ist keine Narrheit, nur der Narr kann nicht verzeihen." Der hätte auch gepasst. Rüdiger war kein Narr. Er hatte schon verziehen. Frau Miagi die Verspätung, ihrem Mann das Malheur in der Küche und seiner Frau die Rechthaberei.

Und dann, wieder völlig mit seinem Chi im Einklang, knabberte er den ersten Glückskeks seit bestimmt 15 Jahren! Und er stellte fest, dass es gar nicht so schlimm war. Es schmeckte eigentlich ganz gut.

Später, bei einem weiteren Hopfenblütentee fragte sich Rüdiger, welche Erkenntnis er wohl heute Abend gewonnen hatte und kam zu folgenden Schlüssen:

  1. Glückskekse schmecken heute besser als in der Erinnerung.
  2. Chinesisch essen spart den Abwasch und damit wichtige Wasserressourcen, schädigt aber die Umwelt wegen der vielen Verpackungsmaterialien. Somit entsteht eine ausgeglichene Energiebilanz.
  3. Berge bestehen aus Kieselsteinen und wenn man sie versetzen will, setzt man am besten auf den Lieferservice von Chinarestaurants.
  4. Fasten ist gar nicht so einfach, aber eine Erfahrung mit Erkenntnisgewinn.

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