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Modernistisches Reflexivjammern

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Früher hatten wir noch Hängematten!

Als Modernistisches Reflexivjammern bezeichnet man polemischen Dünnpfiff, der sich einzig dem Themenkomplex »Früher war alles besser« widmet und meist inhaltsgleich mehrere Male reproduziert wird. Das Modernistische Reflexivjammern (im Folgenden Reflexivjammern) trifft man in allen Epochen an. Erste schriftliche Belege reichen zurück bis ca. 2000 v.Ch.:
»Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.« (Keilschrifttext aus Ur)

»Der Mensch von heute« bzw. »Die Jugend heutzutage«

Mit diesen Formulierungen täuscht der Reflexivjammerer (vergl. Jammerlappen) fundierte Kenntnis des Menschen bzw. der Jugend »von früher« vor, an denen er den Menschen / die Jugend von heute misst. Gemäß der Reflexivjammer-Choreographie folgen nun Floskeln wie »… ist nicht mehr … / … weiß nicht mehr … / … kann nicht mehr …«. Entscheidend für diese Variante ist hier das Wörtchen mehr. Ungenügend wäre, dass Mensch es heute einfach nicht weiß, er weiß ja vieles (noch) nicht, nein, der Mensch weiß es heute nicht mehr. Bedeutet, der Mensch hatte es früher (angeblich) einmal gewusst, es aber mittlerweile vergessen.
Das ominöse »Es« ist dabei immer eine weder für früher noch für heute nachprüfbare Behauptung. Die Reflexivjammer-Syntax im Ganzen: »Der Mensch von heute weiß nicht mehr, woher er kommt oder wohin er gehen soll.« Oder »Die Jugend heutzutage hat keine Ziele mehr.« Wenn man diese und ähnliche Reflexivjammerphrasen auf ihren Gehalt hin überprüft, kommt kein solcher heraus. Nehmen wir als Beispiel den Menschen von heute, der angeblich nicht mehr weiß, wo er herkommt: Das ist natürlich Bullshit. Denn nie zuvor hatte der Mensch fundiertere Kenntnis über seine Herkunft, nicht die banale Herkunft »aus dem Badezimmer«, sondern z.B. die kulturelle, historische, die biologische, genetische, die geographische(*) etc.

Ebenso ist die Behauptung unzutreffend, der Mensch wisse nicht mehr, wo er hin soll. Denn wäre dem so, würden lauter orientierungslose Personen auf den Straßen und Plätzen herumirren. Nun kommt regelmäßig der Einwand, die Reflexivjammerphrase dürfe man nicht wörtlich nehmen, sondern eher metaphorisch. Aber auch das generiert keine substanzielle Erkenntnis, denn all das oben genannte (*) ist im Gegensatz zu »aus dem Badezimmer« bereits metaphorisch gedacht.

»Der Mensch von früher«

Früher hatten wir noch Philosophen!

»Früher wusste der Mensch noch, was Liebe ist und hatte noch Werte und Ideale« In dieser Variante ist das noch die entscheidende Aussage. Früher noch, heute nicht mehr (siehe oben). Auch hier weiß der Reflexivjammerer vorgeblich genau, wie es früher war, und woran es heute gebricht. Fragt man ihn aber, welche Werte und Ideale das wohl gewesen sein sollen, fällt ihm nichts konkretes ein: »Na Werte halt, weiß doch jeder, was das ist.« Der Reflexivjammerer weiß es jedenfalls nicht.

Ursachen

Warum jammert der Reflexivjammerer? Wissenschaftler des Institutes für angewandte Frustrationsanalyse Klagenfurt (IAFK) vermuten, dass der Reflexivjammerer mit der vorgetäuschten Kenntnis des »Menschen von früher« seinen Frust über die Unkenntnis des »Menschen von heute« kompensiert. Im Klartext: Der Reflexivjammerer weiß weder über das »Früher« noch über das »Heute« Bescheid. Was er da so stromlinienförmig formuliert, sind leere Phrasen, Gewäsch, Gemeinplätze.
Er meint, was er heute als Übel ausgemacht hat, hätte früher nie existieren können, weil »Früher« irgendwie besser war, so ursprünglich und wahr und so, authentisch und unverdorben, eben mit Werten. Möglicherweise verwechselt der Reflexivjammerer das tatsächliche »Früher« mit Geschichten vom Paradies und den Gebrüdern Grimm.

Ostalgie-Dampfer schippert traurige Ossis an der Ruine des Berliner Palastes der Republik vorbei.

Die vermeintlichen Übel, die der Reflexivjammerer beklagt, sind seit Jahrhunderten die gleichen unhaltbaren Behauptungen und schwammigen Verallgemeinerungen. Der Tenor des Reflexivjammeres ist depressiv, pessimistisch und weinerlich. Menschen, die ebenfalls weder vom »Früher« noch vom »Heute« einen Plan haben, vom »Heute« aber diffus enttäuscht sind, politikverdrossen oder sich vom Leben mehr erwartet haben, bleiben leicht am pappigen Gerede der Reflexivjammerers kleben, empfinden eine gewisse Betroffenheit und stimmen in das unreflektierte Jammern ein.

Ostalgie

Eine Sonderform des MGZ-Jammerns ist die Ostalgie. Hier werden durchaus noch bekannte, aber nicht mehr vorhandene Zustände zum »Früher war nicht alles schlecht« verklärt.

Philosophen zum Reflexivjammern

Wer beim jammern nicht aufpasst, verstrickt sich schnell in Widersprüche.

Auch große Geister sind nicht vorm Reflexivjammern gefeit: Sokrates (gr. Philosoph, 470-399 v. Chr.) klagte wie folgt über die Jugend heutzutage:

"Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren die Lehrer."

Und auch Aristoteles (griech. Philosoph, 384-322 v. Chr.) reiht sich ein:

"Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen."

Wir wissen, dass die Welt nicht 2000 v. Chr. endete und auch die aristotelische Hoffnungslosigkeit unbegründet war. Über diese Erfahrungswerte hinaus können wir extrapolieren, dass auch die heutige Jugend die Menschheit nicht ins Verderben stürzen und der Weltuntergang demnächst nicht anstehen wird.

Disclaimer

Natürlich war früher nicht alles schlecht, aber auch nicht alles gut. Fakt ist, dass ausnahmslos alles früher jünger, frischer und neuer war. Auch der Reflexivjammerer war früher jünger, vielleicht schöner, schlanker, gesünder. Möglicherweise treibt ihn diese Sehnsucht nach Früherem in Tateinheit mit verblassender Erinnerung zum verklärenden Jammern. Reflexivjammern ist keine Frage mangelnden Intellekts oder fehlender Reflexion. Es kann jeden treffen. Mit zunehmenden Alter steigt das Jammer-Risiko.

Siehe auch


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