Mahatma Gandhi: Unterschied zwischen den Versionen

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{{Weiterleitungshinweis|Gandhi|Zu gleichnamigen Personen siehe [[Gandhi (Familienname)]]. Zum Film siehe [[Gandhi (Film)]].}}
  
'''Mahatma Gandhi''' (* [[2. Oktober]] [[1800]] als Mahatma Gandalf, in [[Graubünden]] ([[Gujarat]]), [[Indien]]; † [[30. Januar]] [[1998]] in [[New York City|Neu Jork]]) war ein ehemaliger deutscher Feldmarschall, der nach Indien übersiedelte und es geschafft hat, ein ganzes [[Land]] aus der Knechtschaft zu befreien - einfach weil er zu faul war aufzustehen, wenn man es ihm sagte. Sein [[Wahlspruch]] war: ''"Mahatma Glück, Mahatma Pech, Mahatma Gandhi!"''. Mit diesem Spruch wurde er international bekannt neben seiner Karriere als [[Michael Jackson]] und Mario Ballotelli.
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[[Datei:Portrait Gandhi.jpg|miniatur|Mohandas Karamchand Gandhi (Porträtfotografie etwa Ende der 1930er Jahre)
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[[Datei:Mahatma-Gandhi-Signature-Transparent.png|rechts|rahmenlos|Unterschrift von Mahatma Gandhi]]]]
  
Damit ist die heilsame Wirkung der [[Faulheit]] endgültig bewiesen, und Kündigungen müssen zukünftig anders begründet werden. Die vielen faulen Jobbesetzer führen zu einer enormen [[Arbeitslosigkeit]]. Das ist glücklicherweise egal, da die ganzen untätigen [[Arbeitslos]]en durch ihr [[Diverses:Zaudermerkel|Nichtstun]] fleißig am [[Weltfrieden]] arbeiten.
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'''Mohandas Karamchand Gandhi''' ([[Gujarati]]: {{lang|gu|મોહનદાસ કરમચંદ ગાંધી}}, {{HiS|मोहनदास करमचंद गांधी|Mohandās Karamchand Gāndhī}}; genannt '''Mahatma Gandhi'''; * [[2. Oktober]] [[1869]] in [[Porbandar]], [[Gujarat]]; † [[30. Januar]] [[1948]] in [[Neu-Delhi]], [[Delhi]]) war ein [[Indien|indischer]] Rechtsanwalt, Widerstandskämpfer, Revolutionär, Publizist, Morallehrer, [[Asket]] und [[Pazifismus|Pazifist]].
  
Mahatma Ghandi wird für immer in [[Erinnerung]] bleiben als der Mann, der es der [[Welt]] ermöglichte, endlich ohne Gewissensbisse faul rumzulümmeln und sich keine [[Gedanken]] mehr über die [[Zukunft]] zu machen. Daher hat man ihm in jedem noch [[Pondicherry|unbedeutendem Ort]] in Indien Statuen gewidmet, die, wie er selbst einfach nur in der Gegend rumstehen und überflüssig sind. Arbeitsame fleißige [[Person]]en sind nun also die letzte große [[Gefahr]] für den Welt[[frieden]]. Diese werden aber in den nächsten Jahrzehnten ganz sicher [[aussterben]], da sie sich durch das durchfüttern der Faulen überarbeiten, und so keine Zeit mehr für die eigene [[Fortpflanzung]] finden.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich Gandhi in [[Südafrika]] gegen die [[Apartheid|Rassentrennung]] und für die Gleichberechtigung der Inder ein. Danach entwickelte er sich ab Ende der 1910er Jahre in Indien zum politischen und geistigen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Gandhi forderte die Menschenrechte für [[Dalit|Unberührbare]] und Frauen, er trat für die Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen ein, kämpfte gegen die koloniale Ausbeutung und für ein neues, autarkes, von der bäuerlichen Lebensweise geprägtes Wirtschaftssystem. Die Unabhängigkeitsbewegung führte mit [[Gewaltfreie Aktion|gewaltfreiem Widerstand]], [[Ziviler Ungehorsam|zivilem Ungehorsam]] und [[Hungerstreik]]s schließlich das Ende der [[Britisches Weltreich|britischen Kolonialherrschaft]] über Indien herbei (1947), verbunden mit der [[Teilung Indiens]]. Ein halbes Jahr danach fiel Gandhi einem Attentat zum Opfer.
  
Man munkelt, dass er im Zuge seiner Faulheit die [[Magersucht]] erfunden hat.
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Gandhi musste in Südafrika und Indien insgesamt acht Jahre in Gefängnissen verbringen. Seine Grundhaltung ''[[Satyagraha]]'', das beharrliche Festhalten an der [[Wahrheit]], umfasst neben ''[[Ahimsa]]'', der Gewaltlosigkeit, noch weitere ethische Forderungen wie etwa ''Swaraj'', was sowohl individuelle als auch politische Selbstkontrolle und Selbstbestimmung bedeutet.
  
Er gründete 1968 die Organisation Die [[Radikale Antiraucher Front]] (kurz [[RAF (Begriffsklärung)|RAF]]), die aber in den 90er Jahren aufgelöst wurde.
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Schon zu Lebzeiten war Gandhi weltberühmt, für viele ein Vorbild und so anerkannt, dass er mehrmals für den [[Friedensnobelpreis]] nominiert wurde. In seinem Todesjahr wurde dieser Nobelpreis symbolisch nicht vergeben. Ebenso wie [[Nelson Mandela]], [[Aung San Suu Kyi]] oder [[Martin Luther King]] gilt er als herausragender Vertreter im [[Befreiungsbewegung|Freiheitskampf]] gegen [[Unterdrückung]] und [[Soziale Ungleichheit|soziale Ungerechtigkeit]].
  
[[Kategorie:Politiker|Gandhi, Mahatma]]
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== Ehrennamen ==
[[Kategorie:Schauspieler|Gandhi, Mahatma]]
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=== Mahatma ===
[[Kategorie:Film|Gandhi, Mahatma]]
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Der [[sanskrit]]ische Ehrenname ''Mahatma'' ({{lang|sa|महात्मा}} {{IAST|mahātmā}}, „große Seele“) stammt wahrscheinlich von dem indischen Philosophen und [[Literaturnobelpreis]]träger [[Rabindranath Tagore]], der Gandhi bei seiner Ankunft in [[Bombay]] am 9. Januar 1915 nach seinem Aufenthalt in Südafrika so begrüßte. Gandhi tat sich lange Zeit schwer mit diesem Beinamen, der gegen seinen Willen gebräuchlich wurde, denn er verzichtete strikt auf jede Art von [[Personenkult|Kult]] um seine Person. In seiner Autobiographie mit dem Untertitel ''Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit'' (1927–1929) schreibt er, dass der Titel ''Mahatma'' für ihn nicht nur keinen Wert besitze, sondern ihn oft tief gepeinigt habe.<ref>M. K. Gandhi: ''Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit.'' Gladenbach 1977, S. 12.</ref> Später akzeptierte er den Ehrennamen und wollte ihm gerecht werden.<ref>Karen E. James: [http://www.lib.virginia.edu/area-studies/SouthAsia/gandhi.html ''From Mohandas to Mahatma: The Spiritual Metamorphosis of Gandhi'']. Essays in History: Volume Twenty-Eight (1984), S. 5–20; Corcoran Department of History at the University of Virginia. Abgerufen am 8. Februar 2012.</ref> Conrad (2006) zufolge ließ er sich „trotz manchen sympathischen Sträubens“ Mahatma nennen.<ref>Dieter Conrad: ''Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt.'' München 2006, S. 28.</ref> Der Name Mahatma Gandhi ist heute weitaus geläufiger als der Geburtsname.
  
[[Kategorie:Erhaben, edel und schön|Gandhi, Mahatma]]
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=== Bapu – Vater (der Nation) ===
[[Kategorie:Gewaltige Persönlichkeiten|Gandhi, Mahatma]]
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Ein anderer in Indien häufiger Ehrenname, den er allerdings gern trug und mit dem ihn auch seine Frau und seine Freunde anzusprechen pflegten, war ''Bapu'' (Gujarati: {{lang|gu|બાપુ}} {{IAST|bāpu}}, „Vater“). [[Subhash Chandra Bose]] benutzte ihn erstmals in einer Radioansprache (1944). Später wurde der Titel auf ''Vater der Nation'' (''father of the nation)'' ergänzt und von der indischen Regierung offiziell anerkannt.
[[Kategorie:Heldinnen und Helden|Gandhi, Mahatma]]
 
  
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== Leben und Wirken ==
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[[Datei:Karamchand Gandhi.jpg|miniatur|hochkant|150px|Sein Vater Karamchand]]
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[[Datei:Putlibai Gandhi.jpg|miniatur|hochkant|150px|Seine Mutter Putali Bai]]
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[[Datei:Mohandas K Gandhi, age 7.jpg|miniatur|hochkant|150px|Der siebenjährige Knabe Mohandas Karamchand Gandhi 1876]]
  
[[kamelo:Mahatma Gandhi]]
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=== Kindheit und Jugend ===
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Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 als jüngster von vier Söhnen in der vierten Ehe seines Vaters Karamchand Gandhi (1822–1885) mit Putali Bai (1839–1891) geboren. Die anderen Ehefrauen seines Vaters waren früh gestorben. Er wuchs in [[Porbandar]], einer kleinen Hafenstadt im heutigen [[Gujarat|Westgujarat]], auf. Sein Vater Karamchand und sein Großvater Uttamchand waren beide Diwans (Premierminister) von Porbandar,<ref>frieden-gewaltfrei.de: [http://www.frieden-gewaltfrei.de/mahatma.htm ''Mahatma Gandhi'']. Abgerufen am 11. Juli 2008.</ref> das zwar offiziell autonom war, aber unter der Kontrolle der britischen Kolonialmacht stand. Im Haus der Familie wohnten auch die fünf Brüder des Vaters mit ihren Familien.
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Die Familie gehörte der Bania-[[Kaste]] an, die zum Stand der [[Vaishya]], der Kaufleute, gehört. Die Gandhis waren damit in der dritten Kaste, deren Mitglieder die gesellschaftliche und politische Oberschicht bilden. Als Kaufleute arbeiteten die Familienmitglieder jedoch seit mehreren Generationen nicht mehr; schon der Urgroßvater diente den Fürsten als Ratgeber in politischen Angelegenheiten und in der Verwaltung.
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Die Gandhis praktizierten den [[Vishnuismus]], eine eher [[Monotheismus|monotheistische]] Form des [[Hinduismus]], der Gebet und Frömmigkeit hervorhebt. In ihrem Haus verkehrten auch Angehörige anderer hinduistischer Strömungen sowie [[Muslim]]e, [[Parsen]] und Anhänger des [[Jainismus]]. Diese im 6./5. Jahrhundert vor Christus entstandene Religion war in Gujarat weit verbreitet, betont strikte Gewaltlosigkeit im Alltag (das [[Ahimsa]]) und die Verbindung von Geist und Materie. Diese Prinzipien haben Gandhis Philosophie geprägt. Er ging lebenslang davon aus, dass das Verhalten des Individuums metaphysische Konsequenzen nach sich zieht.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 12.</ref> In seinem Elternhaus liegen einerseits die Ursprünge seiner religiösen Toleranz, andererseits übte seine tief religiöse Mutter Putali Bai einen großen Einfluss auf ihren Sohn aus.
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1876 zog die Familie in die Stadt [[Rajkot]], das politische Zentrum von Gujarat. Mohandas Gandhi war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und wurde in die Grundschule ''Taluka'' eingeschult, die er bis zu seinem zwölften Lebensjahr besuchte. Der Unterricht in englischer Sprache bereitete ihm Schwierigkeiten, da selbst seine Eltern die Sprache kaum beherrschten. Sein Vater Karamchand war Richter am Fürstengericht und außerdem als Mediator tätig. Hier lernte Mohandas, Streit zu schlichten.
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Ein älterer muslimischer Freund soll Gandhi in seiner Jugend überredet haben, Ziegenfleisch zu kosten, obwohl der Verzehr von Fleisch unter Vishnuiten als eine Sünde galt, weil sie jegliche Gewalt gegen Lebewesen ablehnen. Ebenso brach er das Verbot, Zigaretten und Wein zu konsumieren, und stahl seinen Eltern Geld.<ref name="gandhiserve">{{Internetquelle | url=http://www.gandhiserve.org/gss/chrono.doc |titel=Chronologie von Gandhis Leben und Wirken | werk=gandhiserve.org | hrsg=GandhiServe Foundation | format=doc, 130&nbsp;kB | zugriff=2008-07-21}}</ref> Nach eigener Aussage hatte er ein Bordell aufgesucht und sich danach geschämt.<ref>Angelika Franz: [http://www.zeit.de/2005/09/P-Gandhi_?page=all ''Der eitle Asket'']. Kritische Betrachtung Gandhis in der ''[[Die Zeit|Zeit]]'' vom 24. Februar 2005.</ref> Sein schlechtes Gewissen ließ ihn einen Suizid in Erwägung ziehen; letztlich kam er zu dem Entschluss, seinem Vater sein Fehlverhalten schriftlich einzugestehen.<ref name="gandhiserve" /> Gandhi erreichte, indem er sich in seinem späteren Leben mit seinen eigenen Fehlern in der Jugend beschäftigte, eine hohe Selbstdisziplin und erkannte dies als Quelle der Selbsterkenntnis. Seine Lebensgeschichte wird häufig [[Hagiographie|hagiographisch]] überhöht dargestellt.
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1885 starb Gandhis Vater an den Folgen eines Unfalls, und Mohandas` ältester Bruder Lakshmidas wurde Familienoberhaupt.<ref name="gandhiserve" /> Gandhi besuchte die Oberschule ''(Rajkot High School)'' mit großem Erfolg und erwarb 1887 die Zulassung zu Universitäten.
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[[Datei:Gandhi and Kasturbhai 1902.jpg|miniatur|Gandhi und seine Frau Kasturba 1902]]
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=== Die Ehe mit Kasturba Makthaji ===
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Gandhi wurde bereits im Alter von sieben Jahren mit der gleichaltrigen [[Kasturba Gandhi|Kasturba Makthaji]] (auch: ''Kasturbai'' oder einfach: ''Ba)'' verlobt, die ebenfalls aus der Bania-Kaste stammte und deren Familie ein hohes Ansehen genoss.<ref name="gandhiserve" /> 1882 wurde er im Alter von 13 Jahren durch seine Familie mit ihr verheiratet; gleichzeitig wurden aus finanziellen Gründen auch sein Bruder Karsandas und ein Cousin verheiratet.
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Gandhi kritisierte später sowohl in seinen Werken als auch in der Öffentlichkeit die Kinderheirat, die damals in Indien üblich war und auch heute noch existiert. In seiner Autobiographie ''Mein Leben'' schreibt er: „Ich sehe nichts, womit man eine so unsinnig frühe Heirat wie die meine moralisch befürworten könnte.“<ref>Mahatma Gandhi: ''Mein Leben.'' Frankfurt am Main 1983, S. 11.</ref>
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Als Ehefrau stand Kasturba in der Familienhierarchie an letzter Stelle, allerdings wurde sie von Gandhis Familie gut behandelt. Mit sechzehn Jahren bekamen sie ihr erstes Kind, welches nach wenigen Tagen verstarb.<ref>Mahatma Gandhi: ''Mein Leben.'' Frankfurt am Main 1983, S. 30.</ref> Weitere Kinder waren [[Harilal Gandhi|Harilal]] (1888–1948), [[Manilal Gandhi|Manilal]] (1892–1956), [[Ramdas Gandhi|Ramdas]] (1897–1969) und [[Devdas Gandhi|Devdas]] (1900–1957).
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Ba Makthaji begleitete ihren Mann bei politischen Aktionen und lebte mit ihm auch gemeinsam in Südafrika, wo sie während der Proteste gegen die Arbeitsbedingungen für indischstämmige Südafrikaner inhaftiert wurde. Zurückgekehrt nach Indien, sprach sie auf politischen Veranstaltungen im Namen ihres Ehemanns. Zudem gab sie Alphabetisierungskurse und vermittelte die Grundlagen der Hygiene.
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Ab 1908 pflegte Gandhi seine Frau während ihrer Krankheit und war auch bei ihrem Tod 1944 bei ihr. Dessen ungeachtet hatte er bereits 1906 ein Gelübde der sexuellen Enthaltsamkeit abgelegt.<ref>vgl. Sigrid Grabner: ''Mahatma Gandhi. Politiker, Pilger und Prophet.'' Hier 1. Aufl., Berlin 1983, S. 103.</ref>
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=== Studium in London ===
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Seine Mutter sprach sich gegen ein Studium in [[London]] aus, weil es für einen Hindu Sünde sei, den großen Ozean ''(das schwarze Wasser)'' zu überqueren. Außerdem befürchtete sie, dass ihr Sohn der westlichen unmoralischen Lebensart mit Fleisch- und Alkoholkonsum oder der Prostitution verfallen könne.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 16.</ref> Deshalb besuchte Gandhi ab November 1887 ein Semester lang erfolglos das indische ''Samaldas College'' in [[Bhavnagar]].<ref>Robert Payne: ''The Life and Death of Mahatma Gandhi.'' London 1969, S. 45.</ref> Auf Wunsch seines verstorbenen Vaters sollte er Rechtsanwalt werden. Die Familie beriet darüber mit einem Freund des Vaters und kam im Mai 1888 zu dem Entschluss, er solle ein [[Jurastudium]] aufnehmen. Er selbst favorisierte das Studienfach Medizin, was sein Bruder jedoch ablehnte, da den Mitgliedern der Bania-Kaste das „Zerlegen“ von Fleisch und damit die Tätigkeit als Mediziner aus religiösen Gründen untersagt war.<ref name="gandhiserve" />
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[[Datei:Gandhi student.jpg|miniatur|rechts|Gandhi als Student in London (Ende 1880er Jahre)]]
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Das Familienoberhaupt, sein ältester Bruder, lieh ihm das Geld für Reise und Studium. Gandhi legte ein Gelübde ab, während seines Aufenthaltes in England den Hinduismus weiter zu praktizieren, und versprach seiner Mutter, den westlichen Verlockungen zu widerstehen.<ref>Mike Nicholson: ''Mahatma Gandhi.'' Würzburg 1989, S. 13.</ref> Weil bis dahin kein Angehöriger der Bania-Kaste im Ausland gewesen war, wurde am 10. August 1888 eine Kastenversammlung einberufen, um über den Fall zu beraten. Trotz des Verweises auf sein Gelübde beschloss die Versammlung, ihm im Falle einer Auslandsreise die Kastenzugehörigkeit zu entziehen.<ref name="gandhiserve" /> Gandhi hielt jedoch an seiner Entscheidung fest und galt seitdem als [[Kaste#Unberührbare Kasten|Kastenloser]], was einen weitgehenden Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutete.
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Vom 4. September bis zum 28. Oktober 1888 dauerte die Seereise nach London in Begleitung von Doktor Pranjivan Mehta, einem Bekannten seines Bruders, der ihm während seines Aufenthaltes in England als Ansprechpartner zur Verfügung stand. Gandhi musste feststellen, dass seine Englischkenntnisse noch unzureichend waren.<ref name="gandhiserve" /> Kurz nach seiner Ankunft – indische Beamte hatten ihm in London eine Unterkunft besorgt – meldete er sich an der juristischen Universität [[Inner Temple]] an.
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[[Datei:Gandhi-1890.jpg|miniatur|rechts|Gandhi 1890 in der Vegetarischen Gesellschaft (untere Reihe, Dritter von links)]]
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Wenig später trat er der ''Vegetarischen Gesellschaft'' bei und wurde nach einiger Zeit deren Schriftführer.<ref name="gandhiserve2">[http://www.gandhiserve.org/gss/lebenundwirken.html ''Das Leben und Wirken von Mahatma Gandhi'']. In: ''gandhiserve.org''. Abgerufen am 21. Juli 2008.</ref> Die Angehörigen dieser Organisation vertraten die Auffassung, niemand habe das Recht, die Natur über Gebühr auszunutzen. Grundlage dafür sei eine [[Vegetarismus|vegetarische]] Ernährungsweise. Die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft veranlasste Gandhi, aus Überzeugung auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten, vorher hielten ihn allein Religion und Tradition davon ab. Dort kam er in Kontakt zur [[Theosophische Gesellschaft|Theosophical Society]].
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Gandhi beschäftigte sich in London viel mit religiöser Literatur. In Indien hatte er gegenüber dem [[Christentum]], auch aufgrund des Auftretens christlicher Missionare, Vorbehalte entwickelt. Nun setzte er sich mit dieser Religion inhaltlich auseinander. Das [[Altes Testament|Alte Testament]] stieß ihn zunächst ab; angesprochen fühlte er sich hingegen von der [[Bergpredigt]].<ref>Mohandas Karamchand Gandhi: ''Mein Leben.'' Frankfurt am Main 1983, S. 50.</ref> Er erklärte: „Ich werde den Hindus sagen, dass ihr Leben unvollständig ist, wenn sie nicht ehrerbietig die Lehren Jesu studieren.“<ref>Anand Hingorani (Hrsg.): ''The Message of Jesus Christ by M.&nbsp;K. Gandhi.'' Bharatiya Vidya Bhavan, Bombay 1964, S. 23. Zitat übersetzt von Dean C. Halverson: ''Weltreligionen im Überblick.'' Holzgerlingen 2003, S. 119.</ref> Schwierigkeiten hatte er aber damit, [[Jesus Christus]] als einzigen Sohn Gottes anzuerkennen. Er könne, so der vom [[Hinduismus]] geprägte Gandhi in seiner Autobiographie, nicht glauben, „dass Jesus der einzige fleischgewordene Sohn Gottes sei und dass nur, wer an ihn glaubt, das ewige Leben haben solle. Wenn Gott Söhne haben konnte, dann waren wir alle seine Söhne. Wenn Jesus gottgleich oder selbst Gott war, dann waren wir alle gottgleich und konnten selbst Gott werden.“<ref>M. K. Gandhi: ''Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit.'' Gladenbach 1977, S. 12.</ref>
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Außerdem las er in dieser Zeit zum ersten Mal die Verse der hinduistischen heiligen Schrift ''[[Bhagavad Gita|Bhagavad Gītā]]'' („der Gesang Gottes“), die ihm sein Leben lang das wichtigste Buch werden sollte, in dem er später täglich las. Er übersetzte den Text in seine Muttersprache [[Gujarati]], schrieb Erläuterungen und widmete ihn den Armen. Überdies beschäftigte er sich mit [[Buddha]] und [[Mohammed]], dem Religionsstifter des [[Islam]]. Er war der Meinung, dass der wahre Glaube die Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen vereint.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 19.</ref>
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Zudem war Gandhi darum bemüht, sich in die Gesellschaft zu integrieren, indem er Tanz- und Französischunterricht nahm und sich an die englische Mode anpasste.<ref name="gandhiserve2" /> Das ihm noch recht unbekannte Land beeindruckte Gandhi. Insbesondere faszinierten ihn [[Pressefreiheit]] und [[Streikrecht|Streikkultur]]. Er beschäftigte sich mit politischen und gesellschaftlichen Strömungen wie [[Sozialismus]], [[Anarchismus]], [[Atheismus]] und [[Pazifismus]].
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1889 reiste Gandhi nach Frankreich, um die [[Weltausstellung Paris 1889|Weltausstellung]] in [[Paris]] zu besuchen und den [[Eiffelturm]] zu besteigen.<ref name="eberling20">Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 20.</ref> Im Dezember 1890 legte er erfolgreich das juristische Examen ab und wurde am 10. Juni 1891 nach bestandener Abschlussprüfung als [[Barrister]] an englischen Obergerichten zugelassen.<ref name="gandhiserve" />
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Er durfte seinen Beruf als Rechtsanwalt nun überall ausüben, wo das [[Common Law|britische Recht]] Geltung hatte. Am 12. Juni trat er die Heimreise an.<ref name="gandhiserve2" />
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=== Arbeit als Anwalt in Indien ===
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Erst als Gandhi 1891 in seine Heimat zurückkehrte, wurde ihm die Nachricht überbracht, dass seine Mutter ein Jahr zuvor gestorben war. In England hatte seine Familie ihm diese tragische Neuigkeit nicht mitteilen wollen. Er hatte nun beide Elternteile verloren und musste mehr Verantwortung für die gesamte Familie übernehmen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 20.</ref>
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Von 1891 bis 1893 arbeitete er als Rechtsanwalt in [[Bombay]] und ein halbes Jahr später in seiner Heimatstadt Rajkot. Obwohl er nunmehr gut ausgebildet war und sowohl über ein Anwaltspatent als auch über ein eigenes Büro verfügte, hatte er beruflich wenig Erfolg und konnte seine Familie kaum unterstützen, die sich durch sein Studium verschuldet hatte.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 1997, S. 34.</ref> Der Beruf lag ihm nicht. Er verfügte nicht über die notwendige Erfahrung hinsichtlich der Rechtsprechung in Indien. Des Weiteren bereitete ihm seine Schüchternheit große Probleme. Ein halbes Jahr verbrachte er in Bombay und hospitierte die meiste Zeit bei Gerichtsverhandlungen seiner erfahreneren Kollegen. Denn um Mandanten zu gewinnen, war es erforderlich, andere Anwälte zu [[Bestechung|bestechen]], um sie zur Abgabe von Fällen zu bewegen. Gandhi lehnte diese Korruption jedoch ab. Als es ihm 1892 endlich gelang, einen Fall zu übernehmen, verlor er die Nerven, sodass er nicht sprechen konnte und den Gerichtssaal unter dem Gelächter der Anwesenden verließ.<ref>Mike Nicholson: ''Mahatma Gandhi.'' Würzburg 1989, S. 14.</ref> Daraufhin legte er den Fall nieder und zog in seine Heimatstadt Rajkot.
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In London war Gandhi mit dem westlichen [[Lebensstil]] vertraut geworden, den er teilweise übernahm. Seine Ehefrau lernte beispielsweise wie britische Frauen Lesen und Schreiben, und seine Kinder sollten europäisch erzogen werden. Lakshmidas befürwortete dies, während seine Ehefrau zunächst Vorbehalte hatte. Zugleich versuchte er, sich wieder mit seiner Kaste zu versöhnen, und strebte eine Wiederaufnahme an. Er pilgerte an das Ufer des Flusses [[Godavari]], um sich von der Reise über das ''schwarze Wasser'' zu reinigen, und bezahlte die geforderte Buße. Allerdings hatte er mit seiner Sühne nur teilweise Erfolg; viele, unter anderem die Verwandtschaft seiner Ehefrau, hielten seine Wiedergutmachungsversuche für inakzeptabel.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 21&nbsp;f.</ref>
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Drei Vorbilder nannte Gandhi für sein Leben: den indischen Philosophen [[Shrimat Rajchanda]], den russischen Schriftsteller [[Leo Tolstoi]] und den englischen Philanthropen [[John Ruskin]].<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 22&nbsp;f.</ref>
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=== Gandhi in Südafrika ===
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==== Anlass der Reise und erste Eindrücke ====
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Im April 1893 schickte ihn seine Familie zu dem indischen Geschäftsmann und Freund der Gandhis Dada Abdullah nach [[Pretoria]], um einen Rechtsstreit zu lösen. Gandhi eignete sich für diese Aufgabe, weil britische Anwälte dunkelhäutige Mandanten in der Regel recht nachlässig vertraten. Deshalb war es sinnvoll, einen rechtskundigen Landsmann heranzuziehen. Gandhi war davon überzeugt, dass Dada Abdullah im Recht war, und vereinbarte 1894 einen außergerichtlichen [[Vergleich (Recht)|Vergleich]] mit Abdullah und seinem Prozessgegner,<ref name="gandhiserve" /> der ihm 40.000 Pfund schuldete. Bei dem Treffen einigten sie sich auf eine Ratenzahlung der Summe, um Abdullahs Schuldner vor einer vollständigen Insolvenz zu bewahren. Gandhi hatte seinen ersten Fall in Südafrika somit innerhalb eines Jahres erfolgreich abgeschlossen und erfuhr große Anerkennung von den indischen Kaufleuten, die in Südafrika Handel betrieben.
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Ende Mai 1893 kam Gandhi mit dem Schiff an der Küste Südafrikas in der Hafenstadt [[Durban]] an. In seiner Autobiographie berichtet er von einem Erlebnis während seiner Zugfahrt von Durban nach Pretoria, von dem er sehr geprägt wurde. Wie gewohnt wollte er erster Klasse fahren, wurde jedoch als „Farbiger“ von einem Schaffner aufgefordert, in den Gepäckwagen umzusteigen. Als er sich weigerte, warf ihn der Schaffner in [[Pietermaritzburg]] aus dem Zug.<ref>siehe Rau: ''Gandhi'' (1970), S. 30.</ref> Um nach [[Johannesburg]] zu gelangen, fuhr er mit einer Postkutsche, da eine Zugverbindung nicht vorhanden war. Er wurde auf den Kutschbock verwiesen und vom Schaffner aufgefordert, sich auf den Boden zu setzen. Als Gandhi sich dieser Aufforderung widersetzte, schlug der Schaffner ihn und versuchte, ihn vom Kutschbock zu stoßen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 26.</ref>
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In Johannesburg angekommen, löste er für die Zugreise nach Pretoria trotz seiner schlechten Erfahrungen wiederum eine Fahrkarte für die erste Klasse. Dieses Mal entging er einer weiteren Erniedrigung, weil die weißen Mitreisenden ihn duldeten.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 26.</ref> Mit der Zeit begriff Gandhi, dass er zwar offiziell ein gleichberechtigter Staatsbürger war, aber faktisch trotz seiner Angehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht durch seine Herkunft nur als Mensch zweiter Klasse angesehen wurde. Er schreibt:
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{{Zitat|Die Belästigungen, die ich persönlich hier zu dulden hatte, waren nur oberflächlicher Art. Sie waren nur ein Symptom der tiefer liegenden Krankheit des Rassenvorurteils. Ich musste, wenn möglich, versuchen, diese Krankheit auszurotten und die Leiden auf mich zu nehmen, die daraus entstehen würden.|ref=<ref>Mohandas Karamchand Gandhi: ''Mein Leben.'' Frankfurt am Main 1983, S. 70.</ref>}}
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Das Problem der Rassendiskriminierung bezog Gandhi dabei jedoch allein auf die indische Bevölkerung Südafrikas. Für die schwarze Bevölkerung übernahm er den von den Kolonialisten gebräuchlichen abwertenden Ausdruck ''[[Kaffer|Kaffir]]'' und empörte sich darüber, dass Inder von den Europäern „auf die Stufe der ungeschlachten Kaffirs degradiert“ würden. Er stellte fest, es gebe „große Unterschiede ... zwischen British Indians und den Kaffir-Rassen Südafrikas“ und sprach sich wiederholt vehement gegen die Vermischung von Indern mit der lokalen Bevölkerung aus.<ref>Uma Shashikant Meshtrie: ''From Advocay to Mobilization. Indian Opinion 1903–1914.'' In: Les Switzer (Hrsg.): ''South Africa's Alternative Press: Voices of Protest and Resistance, 1880s-1960s'' Cambridge University Press, 1997, S. 107.</ref> Während er die Segregation von Indern gegenüber Europäer ablehnte, war er der Ansicht, eine Separation von Indern und ''kaffirs'' sei eine „physische Notwendigkeit“.<ref>[[David Arnold (Historiker)|David Arnold]]: ''Gandhi''. Routledge, 2014, S. 61.</ref>
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==== Erste Widerstandsaktionen ====
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Motiviert durch die ihm selbst widerfahrenen Diskriminierungen durch die [[Rassentrennung]], begann er, sich für die Rechte der [[Inder in Südafrika|indischen Minderheit]] von damals etwa 60.000 Menschen in [[Geschichte Südafrikas|Südafrika]] zu engagieren. Die Wut über die Vorfälle half ihm, seine Schüchternheit zu überwinden. Bereits eine Woche nach seiner Ankunft rief er in Pretoria eine Versammlung der dort lebenden Inder ein und schlug die Gründung einer indischen Interessenvertretung vor. Seine Zuhörer stimmten ihm mit Begeisterung zu.
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[[Datei:Natal Indian Congress.jpg|miniatur|Gandhi (hintere Reihe, Vierter von links) mit den Gründern des Natal Indian Congress (Fotografie aus dem Jahr 1895)]]
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Die [[Kolonialregierung]] hatte vor, den Indern das Wahlrecht zu entziehen ''(Franchise Bill)'', weil sie deren Einfluss auf die Politik vermindern wollte. Als Gandhi kurz vor seiner Abreise von dem Vorhaben erfuhr, beschloss er, zur Organisation des Widerstandes gegen dieses Gesetz in Südafrika zu bleiben.<ref name="gandhiserve" /> Er reichte – unterstützt von 500 weiteren Indern – eine [[Petition]] beim Parlament ein. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 28.</ref>
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Gandhi gründete im August 1894 den [[Natal Indian Congress]] (kurz: ''NIC)'' in [[Natal (Provinz)|Natal]] nach dem Vorbild des 1885 gegründeten [[Indian National Congress]].<ref>[http://www.bruchsaler-friedensinitiative.de/personen/gandhi_m.html ''Personen der Friedensbewegung: Mahatma Gandhi'']. Abgerufen am 28. Juli 2008.</ref> Die regelmäßigen Versammlungen des Kongresses verbesserten nebenbei die Beziehungen zwischen den Indern der verschiedenen Kasten und Religionen.
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[[Datei:Kasturba and children.jpg|miniatur|rechts|Gandhis vier Söhne mit seiner Ehefrau Kasturba in Südafrika 1902]]
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Am 3. September 1894 wurde Gandhi vom [[Oberster Gerichtshof|Obersten Gerichtshof]] in Natal als erster indischer Anwalt zugelassen.<ref name="gandhiserve" /> Neben den Kaufleuten vertrat Gandhi als Rechtsanwalt auch die [[Kuli (Tagelöhner)|Kulis]].<ref name="gandhiserve" /> Diese Bevölkerungsgruppe bestand aus indischen [[Vertragsarbeiter]]n, die für jeweils fünf Jahre nach Südafrika geholt wurden. Mit Gandhi besaßen sie einen Rechtsanwalt, der sich für ihre Interessen einsetzte. Gandhi erlangte auf diese Weise Popularität und Beliebtheit bei den Kulis, die einen großen Teil der damaligen indischen Bevölkerung Südafrikas bildeten, sich eine Mitgliedschaft im Natal Indian Congress jedoch nicht leisten konnten.
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Von der Regierung wurde ein weiteres diskriminierendes Gesetz geplant, nach dem für Vertragsarbeiter, die nach Vertragsablauf in Natal bleiben wollten, eine jährliche [[Kopfsteuer]] in Höhe von 25 Pfund eingeführt werden sollte. Nach einer öffentlichen Kampagne des Natal Indian Congress wurde die Steuer auf drei Pfund gesenkt. Zwar stellten auch drei Pfund eine Belastung dar, aber eine Steuer in Höhe von 25 Pfund pro Jahr hätte eine Ausweisung nahezu aller Kulis bedeutet, die nach Ablauf ihres Vertrages in Südafrika bleiben wollten, weil sie in der Regel nicht im Stande gewesen wären, die hohe Summe aufzubringen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 29.</ref>
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Im Juni 1896 fuhr Gandhi für sechs Monate zurück nach Indien, um Kasturba und seine beiden Kinder [[Harilal Gandhi|Harilal]] und [[Manilal Gandhi|Manilal]] nachzuholen. Er hatte zwei Schriften angefertigt, in denen er die schwierige Situation der Inder in Südafrika schilderte. Seine Schriften, das sogenannte ''Green Pamphlet'',<ref name="gandhiserve" /> wurden von mehreren Tageszeitungen auszugsweise veröffentlicht; die Inder reagierten bestürzt. Gandhi traf sich während seines kurzzeitigen Aufenthaltes mit einflussreichen indischen Politikern, wie dem Reformer [[Gopal Krishna Gokhale]] und dem revolutionswilligen [[Bal Gangadhar Tilak]].<ref name="gandhiserve" />
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Im Dezember 1896 kehrte Gandhi mit seiner Familie nach Südafrika zurück und wurde dort von etwa 5000 weißen Gegnern, die von seinen Schriften empört waren, umringt und niedergeschlagen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 1997, S. 45&nbsp;f., 49&nbsp;ff.</ref> Unter Polizeischutz musste Gandhi zu einem Freund gebracht werden, vor dessen Haus sich wiederholt eine zornige Menge von Menschen versammelte. Obwohl der Lynchversuch in London bekannt wurde und der Kolonialminister [[Joseph Chamberlain]] dazu aufforderte, die Schuldigen zu bestrafen, verzichtete Gandhi, der Namen von Tätern kannte, auf Erstattung einer Anzeige. Er trug damit zur Entspannung der Lage bei, da seine Verfolger seine Haltung respektierten.<ref name="gandhiserve" /><ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 22&nbsp;f.</ref>
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Gandhi mischte sich in häusliche Angelegenheiten sehr stark ein – anders als die traditionelle Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau es vorsah. So ordnete er beispielsweise an, was gekocht wird, und wirkte bei der Erziehung und Pflege seiner Kinder maßgeblich mit. Als 1900 sein vierter Sohn [[Devdas Gandhi|Devdas]] geboren wurde, übernahm er sogar die Aufgabe des Geburtshelfers, da in dem Moment keine Hebamme zugegen war. Des Weiteren ließ er aus Achtung und Rücksicht auf die ''[[Unberührbare]]n'' nicht zu, dass sie die Nachttöpfe seiner Familie entsorgten, und übernahm selbst diese Aufgabe. Er zwang auch Kasturba dazu, die immer mehr an dem ungewöhnlichen Verhalten ihres Ehemannes verzweifelte.<ref>siehe Rau: ''Gandhi'' (1970), S. 41.</ref>
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[[Datei:Gandhi Boer war.jpg|mini|Gandhi (oben, Mitte) im Zweiten Burenkrieg (ca. 1899/1900)]]
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==== Zweiter Burenkrieg ====
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Während des [[Zweiter Burenkrieg|Zweiten Burenkrieges]] 1899 bewegte Gandhi eine Anzahl von 1100 Indern dazu, die Briten im Krieg zu unterstützen, um ihre Loyalität zu beweisen, die Inder als pflichtbewusste Bürger zu präsentieren und dadurch mehr Anerkennung für sie zu gewinnen.<ref name="gandhiserve" /> Weil Hindus aus Glaubensgründen in keinem Fall Menschen töten dürfen, leisteten die Inder nur Sanitätsdienst. Trotz der Anerkennung ihrer Dienste traten grundlegende Verbesserungen ihrer Situation nicht ein.<ref>[http://www.vaeternotruf.de/mahatma-gandhi.htm ''Mahatma Gandhi'']. Abgerufen am 28. Juli 2008.</ref> Schon kurz nach dem Ende des Burenkrieges 1902 folgte das nächste diskriminierende Gesetz, das Inder zwang, sich vor einer Einreise in die [[Burenrepublik]] registrieren zu lassen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 34.</ref>
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Gandhi wollte, dass die Inder als gleichberechtigte britische Bürger von der Gesellschaft angesehen und akzeptiert werden, das Eintreten für Unabhängigkeit stand noch nicht auf seiner Agenda.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 31.</ref>
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==== Einjähriger Aufenthalt in Indien ====
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Gandhi kam 1902 zu dem Entschluss, nach Indien zurückzukehren, um in [[Bombay]] eine Rechtsanwaltspraxis zu eröffnen und sich für die Rechte der Inder gegenüber der Kolonialmacht einzusetzen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 32.</ref>
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Er besuchte Sitzungen des [[Indian National Congress]], lernte dort viele bedeutende indische Politiker kennen und traf seinen politischen [[Mentoring|Mentor]] Gopal Krishna Gokhale<ref>Dietmar Rothermund: [http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de-DE/ItemID__141/mid__12188/40208766/Default.aspx ''Mahatma Gandhi und die britische Fremdherrschaft in Indien'']. Abgerufen am 16. Juli 2008.</ref> wieder, der im Vergleich zu Bal Gangadhar Tilak gemäßigtere Ansichten vertrat. Gokhale versuchte, die britischen Politiker durch Petitionen zu beeinflussen und auf diese Weise Indien Schritt für Schritt zu wandeln und das Mitspracherecht der Inder zu erweitern. Gandhi war jedoch vom Indian National Congress enttäuscht, weil der Kongress seiner Ansicht nach keine grundlegenden Verbesserungen für das alltägliche Leben der indischen Bevölkerung herbeiführte.
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In dieser Zeit bereiste Gandhi Indien, und zwar in der dritten Klasse, weil er sich mit dem einfachen Volk vertraut machen wollte.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 33.</ref>
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==== Rückkehr nach Südafrika, Phoenix-Siedlung ====
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Auf Anfrage seiner Mitstreiter kam Gandhi im Dezember 1902 zurück nach Südafrika, um mit dem britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain, der Südafrika besuchte, über die Rechte der Inder zu verhandeln. Es gelang ihm nicht, Chamberlain von seinen Ansichten zu überzeugen, und das Gespräch endete ergebnislos. Daraufhin folgte Gandhi ihm nach Pretoria und bat um ein zweites Gespräch, das ihm allerdings verweigert wurde.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 34.</ref>
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Gandhi ließ sich im Februar 1903 in Johannesburg nieder und arbeitete dort als Rechtsanwalt. Weil er bei der indischen Bevölkerung ein hohes Ansehen genoss, gewann er viele Klienten. Obwohl er sich nur von Klienten bezahlen ließ, die es sich leisten konnten, war sein Verdienst recht hoch, und er konnte Geld zurücklegen.<ref>Mike Nicholson: ''Mahatma Gandhi.'' Würzburg 1989, S. 17.</ref> Im Dezember 1903 kam seine Familie nach.
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Zu dieser Zeit brach eine [[Lungenpest]] aus, von der aufgrund der schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen besonders die Bergarbeiter betroffen waren. Gandhi kümmerte sich um die Pflege der Erkrankten und finanzierte die Behandlung.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 34.</ref>
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Er gründete 1904 in [[Inanda (KwaZulu-Natal)|Inanda]] die Zeitung ''Indian Opinion'', die auf Englisch sowie in einigen [[Sprachen Indiens|indischen Sprachen]] herausgegeben wurde und sich mit der Zeit zum Sprachrohr der Inder entwickelte. Einen großen Teil der Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Geld des ''Natal Indian Congress'' investierte er in den Druck, denn die Druckkosten waren aufgrund der stark ansteigenden Auflage sehr hoch.
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Inspiriert von dem britischen Schriftsteller John Ruskin, der in seinem Werk ''Unto this last'' Ethik und Wirtschaft verbindet, gründete Gandhi Ende 1904, unterstützt von Freunden und Verwandten, die ''Phoenix-Farm'' in Inanda, wo er und einige seiner Mitstreiter ihr Leben so anspruchslos wie möglich gestalteten. Alles, was sie zum Leben brauchten, versuchten sie in [[Selbstversorgung|eigener Produktion]] herzustellen. Auch die ''Indian Opinion'', für die Gandhi regelmäßig Beiträge schrieb und deren Chefredakteur er war, wurde in der kleinen Siedlung gedruckt. Im Dezember 1904 erschien die erste Ausgabe.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 34&nbsp;f.</ref>
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==== Askese und ethische Prinzipien ====
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[[Datei:Gandhi costume.jpg|miniatur|Gandhi 1906 in Südafrika]]
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Doch schon bald kehrte er nach Johannesburg zurück, wo seine juristischen Kompetenzen gebraucht wurden. 1905 holte er Kasturba und drei seiner Söhne nach, die sich zwischenzeitlich für einige Zeit in Indien aufgehalten hatten, während der älteste Sohn Harilal in Rajkot blieb. Kasturba litt unter dem ungewohnten spartanischen Leben, das ihr Ehemann in seinem Haus in Johannesburg weiterführte. 1906 legte er nach Diskussionen mit Vertrauten über das Für und Wider ein Keuschheitsgelübde ab und informierte erst danach seine Ehefrau, ohne ihr die Scheidung anzubieten. Er wollte sich vollständig auf seine politischen Aktivitäten konzentrieren.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 36.</ref> Damit erhoffte er, die sexuelle Energie in spirituelle umzuwandeln, und warf sich seit dem grausam niedergemetzelten Zulu-Aufstand häufig vor, Gewalttaten anderer nicht verhindern zu können.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 25.</ref>
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Gandhi übte ''[[Brahmacharya]]'' (das „Eine-Wahre“, verbunden mit sexueller Enthaltsamkeit), was sich weniger auf das erste der vier klassischen Lebensstadien im Hinduismus bezieht als vielmehr aus der [[Yoga]]-Lehre stammt und innerhalb von [[Yama]] ein Moralprinzip bildet, wie auch [[Ahimsa]], die Gewaltlosigkeit. Zugleich begann er immer mehr, mit seiner Nahrung zu experimentieren, die nun roh, ungewürzt und so einfach wie möglich zu sein hatte. Dies nannte er ''Swaraj'', was Selbstzucht und Selbstbeherrschung bedeutet und nicht nur individuell, sondern auch politisch gemeint war als Herrschaft über sich selbst.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 85, 96&nbsp;f.</ref> Seine kastenübergreifende religiöse Ausrichtung wird auch als [[Neohinduismus]] bezeichnet.<ref>Peter Antes: ''Grundriss der Religionsgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart.'' Stuttgart 2006, S. 58.</ref>
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Ein anderer wichtiger Grundbegriff in Gandhis Ethik war seine Wortschöpfung ''[[Satyagraha]]'' („Festhalten an der Wahrheit“), ein Ausdruck, den er geprägt hatte, um nicht von [[Passiver Widerstand|passivem Widerstand]] zu sprechen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 35.</ref> Er verfolgte damit eine aktive Strategie der Nichtkooperation, d.&nbsp;h. Übertretung ungerechter Gesetze und Anweisungen, Streiks, einschließlich Hungerstreiks, Boykotte und Provokation von Verhaftungen. Satyagraha war für ihn eng verbunden mit Gewaltlosigkeit:
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{{Zitat|Wahrheit schließt die Anwendung von Gewalt aus, da der Mensch nicht fähig ist, die absolute Wahrheit zu erkennen, und deshalb auch nicht berechtigt ist zu bestrafen.|ref=<ref>Madeleine und Romain Rolland (Hrsg.): ''Jung Indien. Aufsätze aus den Jahren 1919 bis 1922.'' Zürich 1924, S. 241.</ref>}}
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Die Satyagraha-Bewegung entwickelte sich nach und nach von den Zulu-Aufständen an, über die Kampagne gegen die Meldegesetze bis zum schließlich erfolgreichen Kampf um die Unabhängigkeit Indiens.
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==== Zulu-Aufstand ====
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[[Datei:Gandhi Zulu war.jpg|miniatur|rechts|Gandhi (mittlere Reihe, Vierter von links) und seine Sanitätereinheit während des Zulu-Aufstands von 1906]]
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Im Februar 1906 töteten Angehörige der [[Zulu (Volk)|Zulu]] zwei Polizisten, nachdem eine neue [[Kopfsteuer]] erlassen worden war. Daraus entwickelten sich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen 1500 nur mit Speeren bewaffneten [[Indigene Völker|Ureinwohnern]] und britischen Kolonialtruppen in Verbindung mit Polizeieinheiten.
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Wie schon während des Burenkrieges forderte Gandhi am 17. März seine Landsleute auf, eine Sanitätereinheit zu bilden. Er rückte mit nur 24 Mann an und half Verwundeten beider Seiten. Gandhi war von der Gewalt der militärisch weit überlegenen Briten bestürzt, die den Aufstand im Juli 1906 brutal niederschlugen und die Überlebenden sowie sympathisierende Zulu inhaftierten oder deportierten.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 34&nbsp;f.</ref>
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==== Widerstand gegen das Meldegesetz, Beginn der Satyagraha-Bewegung ====
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In [[Transvaal]] wurde im März 1907 ein [[Meldegesetz]] ''(Asiatic Law Amendment Act)'' ausschließlich für Inder in Kraft gesetzt.<ref>[http://scnc.ukzn.ac.za/doc/HIST/LAWS.htm ''Segregation and Apartheid Laws as Applied to Indians (1859–1994)'']. Auf der Website des Gandhi-Luthuli Documentation Centre, Durban</ref> Bei der Registrierung nahmen die Meldebüros Fingerabdrücke zur Identifikation und gaben Meldescheine aus, die Inder stets bei sich tragen mussten. Am 1. Januar 1907 war Transvaal politisch unabhängig geworden, und das Gesetz konnte mit einer ausschließlich formalen Zustimmung der britischen Regierung erlassen werden.
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Gandhi organisierte eine Versammlung, auf der etwa 3000 Inder schworen, die Meldepflicht zu ignorieren. Außerdem reiste er nach London und führte Gespräche mit britischen Politikern. Das Ergebnis war für Gandhi dieses Mal befriedigend; das Meldegesetz wurde gestoppt.
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Weil die meisten Inder, die einen Schwur zum Brechen des Gesetzes abgelegt hatten, die Registrierung verweigerten, verlängerte der Innenminister [[Jan Christiaan Smuts]] die Frist. Er drohte bei Nichteinhaltung des Ultimatums mit Gefängnisstrafen und Deportationen. Trotz der Drohungen ließen sich nur wenige weitere Inder registrieren. Mit der Übertretung des ungerechten Meldegesetzes fand die Satyagraha-Bewegung ihren Anfang.
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Ende Dezember 1907 wurden Gandhi und 24 seiner Satyagrahis verhaftet. Viele seiner Anhänger protestierten vor dem Gerichtsgebäude, und weitere Inder ließen sich verhaften, sodass sich Ende Januar bereits 155 Inder im Gefängnis befanden. Während seines zweimonatigen Gefängnisaufenthaltes las Gandhi ein Essay des US-Amerikaners [[Henry David Thoreau]] aus dem Jahr 1849, in dem die Strategie des [[Ziviler Ungehorsam|zivilen Ungehorsams]] behandelt wird. Darin fand Gandhi seine Philosophie wieder.
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Schließlich schlug er die Registrierung der Inder und im Gegenzug die Abschaffung des Meldegesetzes vor. Jan Christiaan Smuts erklärte sich zu dem Kompromiss bereit und entließ Gandhi und seine Anhänger aus dem Gefängnis. Als Gandhi dem Gesetz selbst nachkommen wollte, versuchten einige Inder, die nicht an das Versprechen Smuts’ glaubten, vergeblich, ihn durch Gewalt davon abzuhalten. Obwohl die meisten Inder sich registrieren ließen, wurde das Gesetz dennoch erlassen. Gandhi bemerkte, dass seine Prinzipien von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit von den Briten nicht eingehalten wurden. Gandhi lehnte es ab, seine politischen Pläne geheim zu halten, vielmehr gehörte Transparenz zu seinem Programm. Damit wollte er Anhänger gewinnen, aber auch die Gegner herausfordern, sich selbst infrage zu stellen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 27&nbsp;f.</ref>
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Im August 1908 verbrannten Tausende Inder, angeführt von Gandhi, auf einer Versammlung in Johannesburg ihre Meldescheine. Er und seine Anhänger reisten in Gruppen aus Natal zur Grenze Transvaals, um eine Massenverhaftung zu provozieren. Er selbst sowie 250 seiner Anhänger wurden zu zwei Monaten Haft und Zwangsarbeit verurteilt.
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Im Dezember 1908 wurde Gandhi wieder freigelassen und pflegte Kasturba, die zwischenzeitlich schwer erkrankt war. Anschließend fuhr er wiederholt nach Transvaal, um sich erneut inhaftieren zu lassen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 37–40.</ref>
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Die Regierung unternahm durch Behinderung des Handels und Verweigerung von Aufenthaltsgenehmigungen Versuche, die Inder wieder besser unter Kontrolle zu bekommen. Nach Ansicht der Händler hatte die Bewegung Gandhis sich zu sehr radikalisiert; schließlich waren auch sie von den Gegenmaßnahmen der Regierung betroffen. Die Folge war, dass viele Geschäftsleute die aktive und finanzielle Unterstützung einstellten. Dadurch ergaben sich für Gandhi finanzielle Engpässe, denn seine Arbeit als Rechtsanwalt hatte er zugunsten der Organisation des Widerstandes bereits aufgegeben.
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Während der Kampagne gegen das Meldegesetz hatte sich Gandhi mit dem Prozess des [[Sokrates]] befasst, Sokrates als verwandten Denker entdeckt und seine [[Apologie (Platon)|Verteidigungsrede]] in die indische Sprache [[Gujarati]] übertragen. Diese Schrift war später in Indien von der Zensur betroffen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 37.</ref>
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==== Das Manifest ''Hind Swaraj or Indian Home Rule'' ====
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1909 reiste Gandhi nach London und traf dort radikale indische Revolutionäre. Diese Gespräche veranlassten ihn, seine Philosophie nochmals zu überdenken. Sein Buch ''Hind Swaraj or Indian Home Rule'' (deutsch: ''Indiens Freiheit oder Selbstregierung)''<ref>deutschsprachige Ausgabe: Mahatma Gandhi: ''Wege und Mittel.'' Zürich 1996.</ref> ist teilweise [[Zivilisationskritik|zivilisationskritisch]] geprägt. So behauptet er hier, Ärzte und Rechtsanwälte seien in Indien überflüssig, obwohl er noch ein Jahr zuvor indische Ärzte und Rechtsanwälte in Südafrika für unabdingbar erklärt hatte, kritisiert die britische Gesellschaft und Regierung und erklärt, das anspruchslose Leben habe vor dem wirtschaftlichen Fortschritt und Wachstum Vorrang. Der britischen Herrschaft über Indien könne durch [[Kampagne der Nichtkooperation|Verweigerung der Zusammenarbeit]] ein Ende gesetzt werden, weil sie auf die Zusammenarbeit mit den indischen Untertanen angewiesen sei. Da die schädlichen Auswirkungen religiöser Gewalt bereits durchschaut seien und durch Annäherung abgestellt werden könnten, beurteilt er die Schäden durch die Zivilisation weitaus strenger.<ref>Dieter Conrad: ''Gandhi und der Begriff des Politischen.'' München 2006, S. 48.</ref> Die von anderen verlangte Selbstregierung ''(Home Rule)'' sei mit der Übernahme des britischen Politik- und Gesellschaftssystems verbunden und stehe damit im Gegensatz zu Indiens wirklicher Selbstbestimmung ''(Swaraj)''.
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Die Schrift wurde zunächst auf Gujarati in seiner Zeitung ''Indian Opinion'' veröffentlicht, 1910 auf Englisch. Die gujaratische Fassung kam auf die koloniale Verbotsliste, weil sie für viele Inder im Gegensatz zur englischen Ausgabe verständlich war.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 29.</ref> Gandhi schickte die Arbeit auch an Leo Tolstoi, der Gandhi durch seine Schriften, insbesondere durch ''[[Das Reich Gottes ist inwendig in euch]]'' und die ''Kurze Darlegung der Evangelien,'' bereits in jungen Jahren stark beeinflusst hatte. Kurz vor seinem Tod las Tolstoi das Manifest und bestärkte Gandhi in einem Brief.
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==== Die Tolstoi-Farm ====
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[[Datei:Tolstoy farm.jpg|220px|miniatur|rechts|Die Tolstoi-Farm 1913]]
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Gandhi ließ sich in Transvaal nieder. Dort verfügte er jedoch weder über eine Unterkunft noch über Einkünfte. Der deutsche Architekt [[Hermann Kallenbach]], Sohn jüdischer Eltern, mit dem er befreundet war, stellte ihm deshalb im Mai 1910 ein Stück Land zur Verfügung. Zusammen mit weiteren Mitstreitern wollte er die in der Phoenix-Siedlung praktizierte Lebensweise fortsetzen und seine Ideale [[Autarkie|wirtschaftlicher Autarkie]] und Besitzlosigkeit verwirklichen. Die Siedlung nannten sie ''Tolstoi''. 1912 verpflichtete sich Gandhi, auf jeglichen Privatbesitz zu verzichten.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 42&nbsp;f.</ref> Im selben Jahr kam Gokhale zur Tolstoi-Farm und fuhr mit Gandhi durch Südafrika, hielt überzeugende faktenreiche Reden, von denen Gandhi viel lernte, und erreichte Zugeständnisse von der Regierung Smuts hinsichtlich der Registrierung und Kopfsteuer, die aber wiederum nicht eingehalten wurden.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 30.</ref>
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==== Widerstand gegen das Ehegesetz ====
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[[Datei:Transvaal Protest March.jpg|miniatur|Der Protestmarsch nach Transvaal 1913]]
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[[Datei:Gandhi satyagrahi.jpg|miniatur|Gandhi 1913, als ''Satyagrahi'']]
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Nach einem neuen Gesetz, das 1913 beschlossen worden war, wurden nur noch christlich geschlossene Ehen offiziell als gültig angesehen. Die Inder waren aufgebracht, schließlich lebten sie somit im [[Konkubinat]] und die Kinder galten als unehelich. Gandhi ermutigte seine Landsleute zum [[Gewaltloser Widerstand|gewaltlosen Widerstand]] gegen das Gesetz. Indische Arbeiter streikten, auch die Frauen protestierten. Die Briten reagierten mit Gewalt auf diese Aktionen, und die Frauen wurden verhaftet. Gandhi und seine Anhänger marschierten zur Grenze nach Transvaal, um eine erneute Massenverhaftung auszulösen. Während der Aktion wurde Gandhi mehrmals verhaftet und wieder freigelassen.<ref>Heimo Rau: ''Gandhi.'' 29. Auflage. Rowohlt, Reinbek 2005, ISBN 3-499-50172-4, S. 63.</ref> Als sie schließlich an der Grenze ankamen, kam er ebenso wie seine Satyagrahis, darunter auch Hermann Kallenbach, ins Gefängnis in [[Bloemfontein]]. Weitere Anhänger Gandhis wurden in Bergwerken eingesperrt, weil die Gefängnisse inzwischen ausgelastet waren.
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Auf Druck der Weltöffentlichkeit sah sich Jan Christiaan Smuts gezwungen, eine Untersuchungskommission einzurichten, die jedoch nur aus weißen Mitgliedern bestand. Aus diesem Grund verweigerte Gandhi, der inzwischen wieder aus dem Gefängnis entlassen worden war, die Zusammenarbeit mit dieser Kommission.
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Zur selben Zeit begannen die Eisenbahnarbeiter zu streiken. Dieser Streik war zwar nicht auf den Widerstand der Inder zurückzuführen, führte aber dazu, dass die Briten mit der Lage überfordert waren, obwohl Gandhi seine Widerstandsaktionen zunächst eingestellt hatte. Die Folge war, dass Anfang 1914 der ''Indian Relief Act'' verabschiedet wurde, der die Situation der indischen Bevölkerung entschieden verbesserte: Nichtchristliche Ehen wurden wieder als gültig anerkannt, sowohl die Kopfsteuer als auch die Registrierungspflicht wurden aufgehoben, und die indische Einwanderung wurde erlaubt.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 43&nbsp;f.</ref>
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Die Satyagrahis hatten ihre Ziele 1914 weitgehend erreicht, und Gandhi trat Ende 1914 die endgültige Heimreise nach Indien an.
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=== Kampf für Indiens Unabhängigkeit ===
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==== Harijan Ashram: Vorbild für ein unabhängiges Indien ====
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[[Datei:Gandzi.jpg|mini|Gandhis Zimmer im Harijan-Ashram mit Spinnrad]]
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Zurück in Indien, trat er 1915 dem [[Indian National Congress]] (INC) bei und ließ sich von dessen gemäßigtem Leiter [[Gopal Krishna Gokhale]] einführen. Gleichzeitig baute er seinen ''[[Harijan Ashram]]'' auf, wo er auf der Grundlage seiner Interpretation des hinduistischen Prinzips ''[[Ahimsa]]'' (Gewaltlosigkeit) von 1918 bis 1930 lebte. Er formulierte 11 Selbstverpflichtungen für das Leben im Ashram: Liebe zur Wahrheit, Gewaltlosigkeit, Keuschheit, Desinteresse an Materiellem, Furchtlosigkeit, vegetarische Ernährung, nicht stehlen, körperliche Arbeit, Gleichheit der Religionen, Einsatz für die „Unberührbaren“ und ausschließliche Verwendung inländischer Produkte ''(Swadeshi)''.<ref>Giovanni Matazzi: ''Mahatma Gandhi. Die große Seele.'' Berlin 2004, S. 52&nbsp;f.</ref>
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Diese Maximen des ''Satyagraha'' verband er mit der Überzeugung ''(Sarvodaya)'', wonach jeder einzelne Mensch durch Selbstverpflichtung und Selbstbeherrschung zum Wohl aller Menschen beiträgt, sodass sein moralischer Aufstieg und das daraus resultierende Handeln dem Fortschritt aller dient.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 241.</ref> Das einfache, bäuerliche, ethisch und religiös begründete und auf Selbstversorgung beruhende Leben der kleinen Ashram-Gemeinschaft wollte er zum Vorbild für ein freies, auch wirtschaftlich von Großbritannien unabhängiges Indien machen.
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Er bediente selbst ein altes Spinnrad, lehnte den Gebrauch der englischen Sprache mehr und mehr ab und ließ Schüler in seinem Sinne unterweisen.<ref>Heimo Rau: ''Gandhi.'' 29. Auflage. Reinbek b. Hamburg 2005, S. 68&nbsp;ff.</ref> Das Spinnen wurde zum Symbol der indischen Unabhängigkeit. Gandhi erwartete, dass sich möglichst viele Menschen daran beteiligten. Er bediente das Spinnrad selbst in politischen Versammlungen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 53.</ref> Um seine Spinnradkampagne zu finanzieren, unternahm er Bahnreisen in der dritten Klasse durch Indien und sammelte Spenden, die ihm großzügig zuteilwurden. Damit erwarb er Spinnräder für die Bauern, ließ Lehrer für Spinnen und Weben ausbilden und gab Geld für Geschäfte, die Textilien aus den Dörfern verkauften. Das Spinnrad ist noch heute Teil der [[Flagge Indiens|indischen Flagge]].<ref>Louis Fischer: ''Gandhi. Prophet der Gewaltlosigkeit.'' München 1983, S. 108&nbsp;f.</ref>
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[[Madeleine Slade]], von Gandhi Mirabehn genannt, die Tochter des britischen Kommandeurs der ostindischen Flottenstation in Bombay, Sir Edmund Slade, schloss sich der Gemeinschaft an und hatte lange Jahre ein sehr enges Verhältnis zu Gandhi.<ref>Sophie Mühlmann: [http://www.welt.de/print-welt/article347809/Gandhi_und_die_Schuelerin.html ''Gandhi und die Schülerin'']. In: [[Welt Online]], 22. Oktober 2004.</ref>
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Ab 1928 gab es Auseinandersetzungen im Ashram, da Gandhi seine Lebensprinzipien streng zur Maxime der gesamten Gemeinschaft machen wollte. So sollten beispielsweise nur noch ungewürzte Lebensmittel gegessen werden, private Ersparnisse waren nicht erlaubt. Gandhi entließ bezahlte Arbeitskräfte und verlangte, die Ashramgemeinschaft sollte die Arbeiten selbst übernehmen. Er verließ 1930 den Ashram, in dem sich heute ein Gandhi-Museum befindet.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 60.</ref>
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==== Der „Anarchist anderer Art“, Weggefährten ====
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Seine erste Rede in Indien hielt Gandhi als Gastredner zur Eröffnung der ''Banaras Hindu University'' im Februar 1916. Auf dem Podium saßen der Gründer der Universität, [[Annie Besant]], Politiker und Fürsten. Gandhi drückte zunächst sein Bedauern aus, dass er die Rede nicht in einer der indischen Sprachen vortrug, sondern in Englisch halten musste, erklärte die Vorteile der Gewaltlosigkeit gegenüber gewaltsamen Aktionen und bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als „[[Anarchismus|Anarchist]] anderer Art“.<ref>[http://www.graswurzel.net/225/gandhi.shtml „Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art.“] M.&nbsp;K. Gandhis Rede zur Einweihung der Hindu-Universität von Benares, 6. Februar 1916, In: ''[[Graswurzelrevolution]].'' 225/Januar 1998.</ref> Annie Besant protestierte, es kam zu einem Tumult, und die Rede musste abgebrochen werden. Die Auseinandersetzungen zwischen Gandhi und Besant wurden auch öffentlich in der Presse ausgetragen. Gandhi kritisierte, dass Besant nur die Mittel- und Oberschicht anspreche, nicht aber die Masse der Bauern. Außerdem war er der Meinung, der indische Unabhängigkeitskampf dürfe nur von Indern ausgetragen werden.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 46&nbsp;f.</ref>
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Gandhis Verhältnis zum Anarchismus war vielschichtig. Er teilte die anarchistische Ansicht, die Macht des Staates unterdrücke das Individuum, das für ihn die „Wurzel allen Fortschritts“ darstellte.<ref name="gier" /> Ebenso stimmte er mit [[Henry David Thoreau]] darin überein, die Regierung sei am besten, die am wenigsten regiere und war der Ansicht, „eine Demokratie basierend auf Gewaltlosigkeit“ sei „die größte Annäherung an reinen Anarchismus“<ref name="ashu">Ashu Pasricha: ''Rediscovering Gandhi Vol 4: Consensual Democracy: Gandhi On State Power And Politics''. Concept Publishing Company, 2010, S. 25ff.</ref> Individuen sollten nach Gandhi basierend auf ihrer selbst erkannten Wahrheit agieren, unabhängig von Beurteilung und Konsequenzen durch andere. Sein Konzept der Dorfrepubliken nannte er selbst eine „erleuchtete Form des Anarchismus“, in der „jeder [sein] eigener Regent“ sei. Gandhi war jedoch (ebenso wie Thoreau) kein Anarchist im üblichen Sinne. Auch stand er im Gegensatz zu [[Libertarismus|libertären]] Theorien, deren Ablehnung staatlicher Regulierung und Eingriffe auf der Betonung gegenseitiger Eigeninteressen beruhen, während seine Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Leidensfähigkeit das Eigeninteresse minimieren und Selbstbeschränkung und -disziplinierung vorgeben. Das ''Satyagraha'' bildet ein System der äußeren Eingrenzung in der Zusammenarbeit für das Gemeinwohl. Nicholas Gier ordnet Gandhi daher eher einem [[Kommunitarismus|kommunitaristischen]], reformierten Liberalismus zu.<ref name="gier">Nicholas F. Gier: ''Nonviolence as a Civic Virtue: Gandhi and Reformed Liberalism.'' In: Douglas Allen: ''The Philosophy of Mahatma Gandhi for the Twenty-First Century''. Lexington, 2008, S. 121–142.</ref> Das Konzept des Gewaltverzichts, der persönlichen Wahrheitserkenntnis und Reinheit hat nur teilweise Entsprechung in den Theorien klassischer westlicher Anarchisten wie [[Pierre-Joseph Proudhon|Proudhon]], [[Michail Alexandrowitsch Bakunin|Bakunin]] oder [[Pjotr Alexejewitsch Kropotkin|Kropotkin]]. Das Prinzip der Ausbildung moralischer Gesetze und persönlicher Disziplin in Gandhis Gemeinschaftskonzept setzt andere Schwerpunkte als diese. Seine Überzeugung, das Individuum müsse das Göttliche in sich selbst finden, dann sei es „allen Regierungen überlegen“, ähnelt den Schriften [[Lew Nikolajewitsch Tolstoi|Tolstois]]. Asha Pasricha bezeichnet Gandhi davon ausgehend als „religiösen Anarchisten“.<ref name="ashu" />
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Einer seiner wichtigsten Schüler und Weggefährten seit 1916 bis zu seinem Tod war [[Vinoba Bhave]], der häufig als Gandhis spiritueller Nachfolger angesehen wird. Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger politischer und persönlicher Freund war [[Vallabhbhai Patel|Sadar Patel]], der ihn in allen weiteren Kampagnen maßgeblich unterstützte. 1917 wurde der spätere indische Ministerpräsident [[Jawaharlal Nehru]] sein Sekretär.
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==== Widerstand gegen den Ausnahmezustand ====
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[[Datei:Young India Pamphlet, September 1919.djvu|mini|Titelseite von ''Young India'', September 1919]]
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Nachdem viele Inder bereits die von der Kolonialmacht ohne indische Zustimmung dekretierte Teilnahme am Ersten Weltkrieg kritisiert hatten, führte die Verlängerung des Ausnahmezustands und des Kriegsrechts 1919 durch den [[Rowlatt Act]] zu Widerstand unter den politisch interessierten Indern unterschiedlicher Herkunft. Während liberale Politiker partielle Autonomie forderten, setzten sich radikalere wie [[Annie Besant]] für ''[[Home Rule]]'' ein, d.&nbsp;h. die Selbstregierung mit Bindungen zum Britischen Königreich, und wandten sich gegen Gandhi. Gandhi aber, der für Annie Besant eingetreten war, als sie sich in Haft befand, unterstrich die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien mit seinen gewaltfreien Aktionen.
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Anfang April 1919 initiierte der [[Indian National Congress]] (INC) Massenproteste gegen die britische Kolonialregierung, an denen Hindus wie auch die anderen Bevölkerungsgruppen teilnahmen. Bereits am ersten Tag, dem 6. April, kam es zu streikartigen Aktionen von Händlern und Geschäftsleuten, die Gandhi als ''[[Hartal]]'' bezeichnete. Arbeit und Handel lagen für einen Tag brach, die Beteiligten sollten nach Gandhis Vorstellung fasten und beten. Seine verbotenen Schriften ''Hind Swaraj'' und ''Sarvodaya'' wurden verkauft, ohne dass die Briten eingriffen.
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Die Wahl der Mittel war jedoch umstritten. Bei weiteren Aktionen hielten sich viele nicht an die Prinzipien des gewaltfreien ''Satyagraha''. Britische Einrichtungen und Privathäuser gingen in der nordindischen Stadt [[Amritsar]], wo zwei Anführer der Bewegung verhaftet worden waren, in Flammen auf. Daraufhin verbot der Gouverneur des [[Punjab]] alle Manifestationen und erteilte einen Schießbefehl. Britische Soldaten töteten am 19. April 1919 beim [[Massaker von Amritsar]] in einem durch eine Mauer abgegrenzten Park, wo eine friedliche Versammlung stattfand, 379 Männer, Frauen und Kinder, 1200 Menschen wurden verletzt. Die Weltöffentlichkeit wurde aufmerksam, und die Protestbewegung erhielt Auftrieb, doch Gandhi fühlte sich am Tod der Opfer des Blutbads mitschuldig.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 53–55.</ref>
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Im selben Jahr gründete Gandhi die zweisprachige Wochenzeitung ''Young India'', in der er seine Weltanschauung verbreitete.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' 2006, S. 79.</ref>
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==== Kalifat-Kampagne und Aufstieg im Indischen Nationalkongress ====
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Viele indische Muslime waren empört darüber, dass das [[Osmanisches Reich|Osmanische Reich]], das zu den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges gehörte, in quasi neokolonialer Manier unter den Siegermächten, zu denen auch Großbritannien gehörte, aufgeteilt werden sollte. Der osmanische Sultan galt vielen Muslimen als [[Kalif]], als religiös-weltlicher Führer aller Muslime weltweit. Gandhi solidarisierte sich 1920/21 mit ihrer [[Khilafatbewegung|Kalifat-Kampagne]] – im Gegensatz zu [[Muhammad Ali Jinnah]], dem eher [[Säkularismus|säkular]] eingestellten Vorsitzenden der [[Muslimliga]]. Dieser Umstand führte 1920 zum Austritt Jinnahs aus dem Indischen Nationalkongress.
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Es ist umstritten, ob Gandhis Engagement für die Kalifat-Kampagne langfristig das friedliche Zusammenleben zwischen Hindus und Muslime belastete und schließlich zur Teilung des Landes beitrug (die Gandhi vehement ablehnte). [[Dietmar Rothermund|Rothermund]] (2003) bezeichnet es als „Fehler“, dass sich Gandhi ohne fundierte Kenntnisse über panislamische Bewegungen gegen den einflussreichen Jinnah stellte.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 10, S. 44.</ref> Laut Eberling (2006) unterschätzte Gandhi die Gegensätze zwischen Hindus und Muslime, die nicht nur religiöser, sondern auch politischer Art gewesen seien, denn die Hindus bildeten in Indien die Oberschicht.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 56.</ref> Dieter Conrad (2006) erscheint Gandhis religiös gefärbte Unterstützung der Kalifatsbewegung „äußerst gewagt“. Seinen Versuch, die Unterschiede der beiden Religionen Hinduismus und Islam zu seinem eigenen Anliegen zu machen, sich auf die Seite der streng religiösen Muslime zu stellen mit dem Ziel gegenseitiger religiöser Rücksichtnahme, erwies sich als Fehlkalkulation. So hoffte Gandhi beispielsweise vergeblich auf eine freiwillige Beendigung des rituellen Kuhschlachtens seitens der Muslime. Jinnah hatte Gandhi vor dieser seiner Ansicht nach reaktionären Bewegung mehrmals gewarnt<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 66.</ref> und warf ihm religiösen [[Zelot]]ismus vor.<ref>Ayesha Jalal: ''The Sole Spokesman: Jinnah, the Muslim League and the Demand for Pakistan.'' CUP, Cambridge 1994, ISBN 0-521-45850-1, S. 8.</ref> Conrad zufolge bestätigten sich später diese Warnungen, als blutige Unruhen zwischen Hindus und Muslime zunahmen.<ref>Dieter Conrad: ''Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt.'' München 2006, S. 43&nbsp;ff.</ref>
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Nach der Auseinandersetzung mit Jinnah erlangte Gandhi mehr Einfluss im Indischen Nationalkongress, der bisher eine Gemeinschaft der indischen Gebildeten gewesen war. Unter Gandhis geistiger Anleitung entwickelte er sich zur Massenorganisation und zur wichtigsten Institution der [[Britisch-Indien#Zeit der Unabhängigkeitsbewegung|indischen Unabhängigkeitsbewegung]]. Die indischen Sprachen sollten Vorzug vor dem Englischen bekommen, auch die Landbevölkerung sollte eine Vertretung erhalten.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 46.</ref> Besonders nach der Weltwirtschaftskrise waren die Abgaben an die Kolonialherren für die Bauern sehr stark gestiegen, sodass sie sich dem INC vermehrt zuwandten.<ref>Dietmar Rothermund: ''Der Strukturwandel des britischen Kolonialstaates in Indien 1757–1947.'' In: Wolfgang Reinhard (Hrsg.): ''Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse.'' (= Schriften des Historischen Kollegs. Band 47). R. Oldenbourg Verlag, München 1999, ISBN 3-486-56416-1, S. 78.</ref>
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==== Kampagne der Nichtkooperation ====
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Um die Briten zu zwingen, den indischen Subkontinent zu verlassen, etablierte Gandhi das Konzept der Nichtzusammenarbeit: Alle indischen Angestellten und Unterbeamten sollten nicht mehr für die Kolonialherrscher tätig werden, jegliche Kooperation sollte gewaltfrei verweigert werden, um so die Briten zu entmachten. Im August 1920 rief Gandhi die [[Kampagne der Nichtkooperation]] offiziell aus. Er glaubte, die Gewaltlosigkeit sei der Gewalt weit überlegen. Einhunderttausend Briten in Indien war es nicht möglich, ein Land von damals dreihundert Millionen Indern zu beherrschen, wenn diese jegliche Zusammenarbeit verweigerten. Zunächst stand dabei [[Subhash Chandra Bose]] an seiner Seite, ein indischer Freiheitskämpfer, der später für den Einsatz militärischer Mittel plädieren sollte.
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[[Datei:Boycott of foreign clothes.jpg|mini|250px|Aufruf zum Boykott ausländischer Kleidung in der Zeitung ''The Bombay Chronicle'' vom 30. Juli 1921]]
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Zum ökonomischen Hintergrund gehörten die außerordentlich hohe Besteuerung des Bodens durch die Kolonialmacht und die anderen Abgaben, die die Inder zu leisten hatten, sowie die fehlenden Schutzzölle gegen Importwaren – Umstände, die der INC möglichst schnell ändern und durch autochthone wirtschaftliche und politische Strukturen ersetzen wollte.<ref>Gita Dharampal-Frick: ''Das unabhängige Indien. Visionen und Realitäten.'' In: ''Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse.'' Hg. Wolfgang Reinhard, Schriften des Historischen Kollegs. R. Oldenbourg Verlag, München 1999, ISBN 3-486-56416-1, S. 88, und Protokoll v. Dharmapal-Fricks Ausführungen, S. 360.</ref> Gandhi propagierte den Boykott von Importwaren, insbesondere aus Großbritannien. Durch die Herstellung selbstgesponnener Kleidung sollte jeder Inder – gleichgültig ob Mann oder Frau, arm oder reich – die Unabhängigkeitsbewegung unterstützen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 55–59.</ref>
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Gandhi stand nunmehr auf dem Zenit seines Ruhms. Wo er auftrat, traten Arbeiter, Bauern, Regierungsangestellte und Vertreter von Bildungsinstitutionen in den Streik. Britische Importkleidung wurde öffentlich verbrannt. Die Zahl der politischen Gefangenen erreichte 20.000. Seit 1921 kleidete sich Gandhi wie die Ärmsten nur noch mit einem Lendentuch. 1922 begann er im Bardoli-Distrikt Gujarats mit Unterstützern eine Kampagne des zivilen Ungehorsams gegen eine massive Steuererhöhung. Es wurden mehrere Ashrams gegründet.
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Doch auch diese Kampagne endete in Gewalt. In dem nordindischen Dorf Chauri Chaura griff eine aufgepeitschte Menge Polizisten an und verbrannte sie in der Polizeistation. Auch zwischen Hindus und Muslime kam es erneut zu Ausschreitungen. Gandhi brach daraufhin die Kampagne sofort ab, was viele Kongressmitglieder, darunter Nehru, missbilligten. Gandhi nahm in dem folgenden Prozess alle Schuld auf sich, verlor seine Zulassung als Anwalt und wurde zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Offiziell wegen einer Blinddarmoperation, wurde er bereits 1924 entlassen. Ein Grund dafür war, dass im selben Jahr erstmals eine [[Independent Labour Party|Labour-Regierung]] an die Macht gekommen war, die Gandhi positiver beurteilte als die konservativen Regierungen.<ref>Dietmar Rothermund: ''Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens.'' Stuttgart 2010, S. 62&nbsp;f.</ref><ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 50.</ref><ref>Heimo Rau: ''Gandhi.'' 29. Auflage. Reinbek bei Hamburg 1970, 2005, S. 80&nbsp;f.</ref><ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 56&nbsp;f.</ref> Ende 1924 wurde Gandhi zum Präsidenten des INC gewählt.
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1923 hatte der französische linkspazifistische Literaturnobelpreisträger [[Romain Rolland]] sich mit den geistigen Traditionen Indiens beschäftigt und eine Artikelserie über Gandhi veröffentlicht, woraus das Buch ''Mahatma Gandhi'' entstand, das 1924 erstmals aufgelegt wurde und ein sehr positives Bild Gandhis zeichnete. Er nennt Gandhi den „indischen [[Franz von Assisi|Franziskus]]“.<ref>Dieter Conrad: ''Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt.'' München 2006, S. 49.</ref>
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Viele Kongressmitglieder folgten Gandhis Weg nicht, sondern wollten vielmehr Indien zu einem modernen Staat machen. Gandhi gab den Vorsitz der Kongresspartei 1925 turnusgemäß auf und schloss nach einem Gelübde ein Jahr des Schweigens in seinem Ashram an, eine Geste, mit der er sich gegen die „Geschwätzigkeit“ und die „Streitereien“ der Berufspolitiker wenden wollte.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 60&nbsp;f.</ref>
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==== Gandhis Programm ====
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Bereits 1927 veröffentlichte Gandhi seine erste Autobiographie ''Autobiography. The Story of My Experiments with Truth,'' die auf Aufzeichnungen während des Gefängnisaufenthalts 1922 bis 1924 und einer anschließenden Artikelserie in seiner auf Gujarati erschienenen Zeitung beruhte. 1928 folgten seine Lebenserinnerungen über Südafrika unter dem Titel ''Satyagraha in Südafrika''.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 80. 1930 gab Charles Freer Andrews unter dem Titel ''Mahatma Gandhi, His Own Story'' eine gekürzte Zusammenstellung dieser beiden Schriften heraus. (Deutsche Fassung: ''Mahatma Gandhi. Mein Leben.'' Leipzig 1930, Neuaufl. Frankfurt am Main 1983 mit einem Nachwort von Curt Ullerich, siehe S. 262)</ref> Gandhi entwickelte darin seine Vorstellung von Demokratie: Demokratie müsse die gesamten physischen, ökonomischen und spirituellen Quellen aller unterschiedlichen Bereiche des Volkslebens im Dienste für das Gemeinwohl aller mobilisieren.<ref>Gandhi Informationszentrum, zit. nach Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 87.</ref> Das Land solle dezentral organisiert werden, wobei im Mittelpunkt das Dorf mit lokaler Selbstversorgung und -verwaltung stehen sollte. Diese Dörfer und andere Gemeinschaften sollten im Konsensverfahren eigene Vertreter wählen und so – wie Gita Dharampal-Frick es ausdrückt – den Staat als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ bilden, den Gandhi weniger als Nationalstaat denn als soziale und kulturelle Einheit mit nur wenigen ordnungspolitischen Eingriffsmöglichkeiten sah. Dieses Prinzip nannte er laut Eberling „aufgeklärte Anarchie“. Sein Fernziel war eine staatsfreie Gesellschaft.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 87; Gita Dharampal-Frick: ''Das unabhängige Indien.'' In: ''Verstaatlichung der Welt?'' München 1999, S. 92–95.</ref> Beispielsweise plante er, den Palast des britischen Vizekönigs nach der Unabhängigkeit als Krankenhaus zu nutzen. In keinem anderen kolonialisierten Land der Welt habe es so klar formulierte Alternativen zum westlichen Staats- und Wirtschaftskonzept gegeben wie die von Gandhi für Indien entwickelten, schrieb Wolfgang Reinhard 1999.<ref>Wolfgang Reinhard: ''Geschichte der Staatsgewalt und europäische Expansion.'' In: ''Verstaatlichung der Welt?'' München 1999, S. 347.</ref>
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Hinsichtlich der Wirtschaft setzte sich Gandhi für einen einheitlichen Lohn für alle Arbeiten ein, Privateigentum sollte von „Treuhandbesitz“ abgelöst werden. Kapitalismus und Sozialismus lehnte er zugunsten einer egalitären, vorindustriellen, wenig bürokratischen Gesellschaft ab.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 88&nbsp;f.</ref> Soziale Ungleichheit wollte er durch allgemeine nichtintellektuelle Bildung überwinden. In religiösen Fragen vertrat er Toleranz. Das indische Kastensystem lehnte Gandhi nicht grundsätzlich ab. Er wollte jedoch die Gleichberechtigung der Kasten herbeiführen und die Kastenlosen befreien. Laut Galtung (1987) schätzte er die
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Zuordnung der Menschen in eine Berufsgruppe, die von Geburt an Sicherheit biete, ihnen die Berufswahl erspare und ihre Kräfte auf sittliches und gerechtes Handeln in der Gesellschaft lenke.<ref>Johan Galtung: ''Der Weg ist das Ziel. Gandhi und die Alternativbewegung.'' Peter Hammer Verlag, Wuppertal/ Lünen 1987, S. 16, 81&nbsp;f.</ref>
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==== Die Inszenierung als religiöse Figur ====
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Religion – darunter verstand er jeden religiösen Ausdruck – und Politik trennte Gandhi nicht. Er lehnte es ab, als Heiliger oder Politiker bezeichnet zu werden, betonte aber den sowohl religiösen wie auch politischen Charakter aller seiner Kampagnen.<ref>siehe dazu beispielsweise Dieter Conrad: ''Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt.'' München 2006, S. 28&nbsp;ff.</ref> Wahrheit bedeutete für Gandhi das Gleiche wie Gott, und diese immerwährende individuelle unbeugsame Suche nach Wahrheit bzw. Gott, die auf die Menschheit positiv einwirkt, hielt er für ein menschliches Grundbedürfnis, welches über der Geschichte steht.<ref>Dietmar Rothermund: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 8&nbsp;f.</ref>
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Der Indische Nationalkongress zeichnete seit den 1920er Jahren für die einfachen Bauern ein Bild von Gandhi, das ihn als eine Art Messias zeigte, eine Strategie, die diese Bauern mit der Widerstandsbewegung verbinden sollte. In tausenden von Dörfern wurden Theaterstücke aufgeführt, die Gandhi als [[Reinkarnation]] früherer indischer nationaler Führer oder sogar als Halbgott darstellten. Diese von der Kongresspartei finanzierten religiösen Historienspiele und Zeremonien führten zur Unterstützung des INC durch Bauern, die tief in der alten hinduistischen Kultur verwurzelt und des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Ähnliche messianische Anklänge gab es in volkstümlichen Liedern und Gedichten. Gandhi wurde dadurch nicht nur zum Volkshelden, sondern der gesamte INC bekam in den Dörfern oft einen sakralen Anstrich.<ref>Atlury Murali: ''Non-Cooperation in Andhra in 1920–22: Nationalist Intelligentsia and the Mobilization of Peasantry.'' In: ''Indian Historical Review.'' 12 (1/2), Januar 1985, {{ISSN|0376-9836}}, S. 188–217.</ref> Diese Idealisierung Gandhis durch den INC hatte nach Auffassung von Gita Dharampal-Frick auch die Funktion, von seinen konkreten umstürzlerischen sozialen „Experimenten“ abzulenken, denn ein Großteil der indischen Elite lehnte Gandhis indisches „Alternativmodell“ ab und strebte eine Modernisierung durch Weiterentwicklung der vorhandenen politischen Strukturen nach der Unabhängigkeit an.<ref>Gita Dharampal-Frick: ''Das unabhängige Indien.'' In: ''Verstaatlichung der Welt?'' München 1999, S. 96&nbsp;f.</ref>
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==== Forderung nach sofortiger Unabhängigkeit ====
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[[Datei:Gandhi and Sadar Patel Bardoli Satyagraha.jpg|miniatur|250px|Gandhi (vierte Person von links) und [[Vallabhbhai Patel|Sadar Patel]] (rechts neben ihm) während der Bardoli-Satyagraha]]
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Die Jahre 1928 und 1929 waren bestimmt von Gewalttätigkeiten seitens radikaler Nationalisten. Unter der Führung des nunmehr [[Marxismus|marxistisch]] ausgerichteten Nehru forderten die Mitglieder des INC die sofortige vollständige Unabhängigkeit, die notfalls auch mit Gewalt erreicht werden sollte. Gandhi führte einen Steuerstreik auf dem Lande, den er Jahre zuvor begonnen hatte, mit Hilfe von Sadar Patel erfolgreich zu Ende. Es kam wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf im Parlament von Neu-Delhi zwei Bomben gezündet wurden. Der INC forderte nunmehr die Unabhängigkeit innerhalb eines Jahres. Als die Briten sich weigerten, forderte er diese mit sofortiger Wirkung.
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Gandhi sollte den gewaltlosen Widerstand leiten, zog sich allerdings zunächst für einige Wochen zur Meditation zurück, bevor er dem britischen Vizekönig brieflich Verhandlungen vorschlug oder bei Weigerung mit weiteren Satyagraha-Aktionen drohte. Er kündigte Maßnahmen gegen die ungerechte Salzsteuer an.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Suhrkamp Taschenbuch 2006, S. 61&nbsp;f.</ref> Zunächst bestimmte er den 26. Januar 1930 zum „Unabhängigkeitstag“, ein Nationalfeiertag, der noch heute als „[[Tag der Republik (Indien)|Tag der Republik]]“ begangen wird. Außerdem legte er den Briten ein 11-Punkte-Programm vor, das wirtschaftliche und politische Forderungen enthielt, u.&nbsp;a. diejenigen nach Abwertung der Rupie, Halbierung des Militärhaushalts, der Grundsteuer und der Beamtenbezüge, Schutzzöllen auf importierte Textilien sowie Streichung der Salzsteuer.<ref>[[Dietmar Rothermund]]: ''Mahatma Gandhi.'' München 2003, S. 63&nbsp;f.</ref>
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==== Der Salzmarsch ====
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[[Datei:Mahatma & Sarojini Naidu 1930.JPG|miniatur|220px|Gandhi und [[Sarojini Naidu]] beim Salzmarsch, 1930]]
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Anfang März 1930 veranlasste Gandhi – er hatte keine Antwort auf seinen Brief erhalten – eine Kampagne des [[Ziviler Ungehorsam|zivilen Ungehorsams]] und rief zum [[Salzmarsch]] gegen das britische Salzmonopol auf. Der 388&nbsp;km lange Salzmarsch von Ahmedabad nach Dandi in Gujarat dauerte vom 12. März bis zum 6. April. Dieser Marsch, auch als Salz-Satyagraha bezeichnet, war die spektakulärste Kampagne, die Gandhi während seines Kampfes um [[Unabhängigkeit (Politik)|Unabhängigkeit]] initiierte. Er war ein Protest gegen die englischen Steuern auf Salz. Indische Bürger durften weder Salz herstellen noch es selber verkaufen.
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Der Aufruf zur [[Steuerverweigerung]] wirkte auf die indischen Massen wie ein Aufbruchsignal. Weite Teile der Bevölkerung, die sich bisher nicht an Gandhis „Wahrheitssuche“ beteiligt hatten, wurden durch diese auf schnellen Erfolg ausgerichtete Aktion des hochangesehenen verehrten Gandhi und seiner Mitstreiter motiviert, sich der Bewegung anzuschließen.<ref>Curt Ullerich: ''Nachwort.'' In: C. F. Andrews (Hrsg.): ''Mahatma Gandhi: Mein Leben.'' Frankfurt am Main 1983, S. 266.</ref> Als die Menschen begannen, massenweise Salz zu gewinnen, ohne die Steuer zu zahlen, wurden 60.000 Personen inhaftiert, darunter Gandhi und die meisten Kongressmitglieder.
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Es gab ein weltweites Medienecho zugunsten des indischen Freiheitskampfes. Im Februar 1931 gab die Kolonialverwaltung nach. Der Vizekönig Lord Irwin führte Verhandlungen mit Gandhi, bis das [[Gandhi-Irwin-Pakt|Irwin-Gandhi-Abkommen]] geschlossen wurde. Die Salzproduktion für den persönlichen Bedarf ging in indische Hand über und die politischen Gefangenen wurden freigelassen.<ref>Matthias Eberling: ''Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung.'' Frankfurt am Main 2006, S. 64&nbsp;f.</ref>
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==== Begegnungen in Großbritannien ====
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[[Datei:Gandhi at Darwen with women.jpg|miniatur|Gandhi mit Textilarbeiterinnen in Darwen, [[Lancashire]], 26. September 1931]]
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An der [[Londoner Konferenz (1930)|ersten Round-Table-Konferenz]] zur indischen Frage nahm die Kongresspartei nicht teil. Ohne Gandhi blieb die Konferenz in London wirkungslos.<ref>{{Literatur|Autor=Arthur Herman|Titel=Gandhi and Churchill: The Rivalry That Destroyed an Empire and Forged Our Age|Verlag=[[Random House]]|Ort=New York|Jahr=2009|Seiten=[http://books.google.de/books?id=Z8JjbAVs2vUC&pg=PA349#v=onepage&q&f=false 349]|Zugriff=2014-04-25}}</ref> Am 17. Februar 1931 kam es zu einem Treffen mit [[Edward Frederick Lindley Wood, 1. Earl of Halifax|Lord Irwin]], dem Vizekönig von Indien. Nach zweiwöchigen Verhandlungen wurde der [[Gandhi-Irwin-Pakt]] bekannt gegeben. Neben einer Freilassung aller Gefangenen für die Zusage Gandhis, den zivilen U

Version vom 8. Oktober 2016, 22:34 Uhr

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Mohandas Karamchand Gandhi (Porträtfotografie etwa Ende der 1930er Jahre)

Mohandas Karamchand Gandhi (Gujarati: Vorlage:Lang, Vorlage:HiS; genannt Mahatma Gandhi; * 2. Oktober 1869 in Porbandar, Gujarat; † 30. Januar 1948 in Neu-Delhi, Delhi) war ein indischer Rechtsanwalt, Widerstandskämpfer, Revolutionär, Publizist, Morallehrer, Asket und Pazifist.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich Gandhi in Südafrika gegen die Rassentrennung und für die Gleichberechtigung der Inder ein. Danach entwickelte er sich ab Ende der 1910er Jahre in Indien zum politischen und geistigen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Gandhi forderte die Menschenrechte für Unberührbare und Frauen, er trat für die Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen ein, kämpfte gegen die koloniale Ausbeutung und für ein neues, autarkes, von der bäuerlichen Lebensweise geprägtes Wirtschaftssystem. Die Unabhängigkeitsbewegung führte mit gewaltfreiem Widerstand, zivilem Ungehorsam und Hungerstreiks schließlich das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien herbei (1947), verbunden mit der Teilung Indiens. Ein halbes Jahr danach fiel Gandhi einem Attentat zum Opfer.

Gandhi musste in Südafrika und Indien insgesamt acht Jahre in Gefängnissen verbringen. Seine Grundhaltung Satyagraha, das beharrliche Festhalten an der Wahrheit, umfasst neben Ahimsa, der Gewaltlosigkeit, noch weitere ethische Forderungen wie etwa Swaraj, was sowohl individuelle als auch politische Selbstkontrolle und Selbstbestimmung bedeutet.

Schon zu Lebzeiten war Gandhi weltberühmt, für viele ein Vorbild und so anerkannt, dass er mehrmals für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. In seinem Todesjahr wurde dieser Nobelpreis symbolisch nicht vergeben. Ebenso wie Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi oder Martin Luther King gilt er als herausragender Vertreter im Freiheitskampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit.

Ehrennamen

Mahatma

Der sanskritische Ehrenname Mahatma (Vorlage:Lang Vorlage:IAST, „große Seele“) stammt wahrscheinlich von dem indischen Philosophen und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore, der Gandhi bei seiner Ankunft in Bombay am 9. Januar 1915 nach seinem Aufenthalt in Südafrika so begrüßte. Gandhi tat sich lange Zeit schwer mit diesem Beinamen, der gegen seinen Willen gebräuchlich wurde, denn er verzichtete strikt auf jede Art von Kult um seine Person. In seiner Autobiographie mit dem Untertitel Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit (1927–1929) schreibt er, dass der Titel Mahatma für ihn nicht nur keinen Wert besitze, sondern ihn oft tief gepeinigt habe.[1] Später akzeptierte er den Ehrennamen und wollte ihm gerecht werden.[2] Conrad (2006) zufolge ließ er sich „trotz manchen sympathischen Sträubens“ Mahatma nennen.[3] Der Name Mahatma Gandhi ist heute weitaus geläufiger als der Geburtsname.

Bapu – Vater (der Nation)

Ein anderer in Indien häufiger Ehrenname, den er allerdings gern trug und mit dem ihn auch seine Frau und seine Freunde anzusprechen pflegten, war Bapu (Gujarati: Vorlage:Lang Vorlage:IAST, „Vater“). Subhash Chandra Bose benutzte ihn erstmals in einer Radioansprache (1944). Später wurde der Titel auf Vater der Nation (father of the nation) ergänzt und von der indischen Regierung offiziell anerkannt.

Leben und Wirken

Datei:Karamchand Gandhi.jpg
Sein Vater Karamchand
Datei:Putlibai Gandhi.jpg
Seine Mutter Putali Bai
Datei:Mohandas K Gandhi, age 7.jpg
Der siebenjährige Knabe Mohandas Karamchand Gandhi 1876

Kindheit und Jugend

Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 als jüngster von vier Söhnen in der vierten Ehe seines Vaters Karamchand Gandhi (1822–1885) mit Putali Bai (1839–1891) geboren. Die anderen Ehefrauen seines Vaters waren früh gestorben. Er wuchs in Porbandar, einer kleinen Hafenstadt im heutigen Westgujarat, auf. Sein Vater Karamchand und sein Großvater Uttamchand waren beide Diwans (Premierminister) von Porbandar,[4] das zwar offiziell autonom war, aber unter der Kontrolle der britischen Kolonialmacht stand. Im Haus der Familie wohnten auch die fünf Brüder des Vaters mit ihren Familien.

Die Familie gehörte der Bania-Kaste an, die zum Stand der Vaishya, der Kaufleute, gehört. Die Gandhis waren damit in der dritten Kaste, deren Mitglieder die gesellschaftliche und politische Oberschicht bilden. Als Kaufleute arbeiteten die Familienmitglieder jedoch seit mehreren Generationen nicht mehr; schon der Urgroßvater diente den Fürsten als Ratgeber in politischen Angelegenheiten und in der Verwaltung.

Die Gandhis praktizierten den Vishnuismus, eine eher monotheistische Form des Hinduismus, der Gebet und Frömmigkeit hervorhebt. In ihrem Haus verkehrten auch Angehörige anderer hinduistischer Strömungen sowie Muslime, Parsen und Anhänger des Jainismus. Diese im 6./5. Jahrhundert vor Christus entstandene Religion war in Gujarat weit verbreitet, betont strikte Gewaltlosigkeit im Alltag (das Ahimsa) und die Verbindung von Geist und Materie. Diese Prinzipien haben Gandhis Philosophie geprägt. Er ging lebenslang davon aus, dass das Verhalten des Individuums metaphysische Konsequenzen nach sich zieht.[5] In seinem Elternhaus liegen einerseits die Ursprünge seiner religiösen Toleranz, andererseits übte seine tief religiöse Mutter Putali Bai einen großen Einfluss auf ihren Sohn aus.

1876 zog die Familie in die Stadt Rajkot, das politische Zentrum von Gujarat. Mohandas Gandhi war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und wurde in die Grundschule Taluka eingeschult, die er bis zu seinem zwölften Lebensjahr besuchte. Der Unterricht in englischer Sprache bereitete ihm Schwierigkeiten, da selbst seine Eltern die Sprache kaum beherrschten. Sein Vater Karamchand war Richter am Fürstengericht und außerdem als Mediator tätig. Hier lernte Mohandas, Streit zu schlichten.

Ein älterer muslimischer Freund soll Gandhi in seiner Jugend überredet haben, Ziegenfleisch zu kosten, obwohl der Verzehr von Fleisch unter Vishnuiten als eine Sünde galt, weil sie jegliche Gewalt gegen Lebewesen ablehnen. Ebenso brach er das Verbot, Zigaretten und Wein zu konsumieren, und stahl seinen Eltern Geld.[6] Nach eigener Aussage hatte er ein Bordell aufgesucht und sich danach geschämt.[7] Sein schlechtes Gewissen ließ ihn einen Suizid in Erwägung ziehen; letztlich kam er zu dem Entschluss, seinem Vater sein Fehlverhalten schriftlich einzugestehen.[6] Gandhi erreichte, indem er sich in seinem späteren Leben mit seinen eigenen Fehlern in der Jugend beschäftigte, eine hohe Selbstdisziplin und erkannte dies als Quelle der Selbsterkenntnis. Seine Lebensgeschichte wird häufig hagiographisch überhöht dargestellt.

1885 starb Gandhis Vater an den Folgen eines Unfalls, und Mohandas` ältester Bruder Lakshmidas wurde Familienoberhaupt.[6] Gandhi besuchte die Oberschule (Rajkot High School) mit großem Erfolg und erwarb 1887 die Zulassung zu Universitäten.

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Gandhi und seine Frau Kasturba 1902

Die Ehe mit Kasturba Makthaji

Gandhi wurde bereits im Alter von sieben Jahren mit der gleichaltrigen Kasturba Makthaji (auch: Kasturbai oder einfach: Ba) verlobt, die ebenfalls aus der Bania-Kaste stammte und deren Familie ein hohes Ansehen genoss.[6] 1882 wurde er im Alter von 13 Jahren durch seine Familie mit ihr verheiratet; gleichzeitig wurden aus finanziellen Gründen auch sein Bruder Karsandas und ein Cousin verheiratet.

Gandhi kritisierte später sowohl in seinen Werken als auch in der Öffentlichkeit die Kinderheirat, die damals in Indien üblich war und auch heute noch existiert. In seiner Autobiographie Mein Leben schreibt er: „Ich sehe nichts, womit man eine so unsinnig frühe Heirat wie die meine moralisch befürworten könnte.“[8]

Als Ehefrau stand Kasturba in der Familienhierarchie an letzter Stelle, allerdings wurde sie von Gandhis Familie gut behandelt. Mit sechzehn Jahren bekamen sie ihr erstes Kind, welches nach wenigen Tagen verstarb.[9] Weitere Kinder waren Harilal (1888–1948), Manilal (1892–1956), Ramdas (1897–1969) und Devdas (1900–1957).

Ba Makthaji begleitete ihren Mann bei politischen Aktionen und lebte mit ihm auch gemeinsam in Südafrika, wo sie während der Proteste gegen die Arbeitsbedingungen für indischstämmige Südafrikaner inhaftiert wurde. Zurückgekehrt nach Indien, sprach sie auf politischen Veranstaltungen im Namen ihres Ehemanns. Zudem gab sie Alphabetisierungskurse und vermittelte die Grundlagen der Hygiene.

Ab 1908 pflegte Gandhi seine Frau während ihrer Krankheit und war auch bei ihrem Tod 1944 bei ihr. Dessen ungeachtet hatte er bereits 1906 ein Gelübde der sexuellen Enthaltsamkeit abgelegt.[10]

Studium in London

Seine Mutter sprach sich gegen ein Studium in London aus, weil es für einen Hindu Sünde sei, den großen Ozean (das schwarze Wasser) zu überqueren. Außerdem befürchtete sie, dass ihr Sohn der westlichen unmoralischen Lebensart mit Fleisch- und Alkoholkonsum oder der Prostitution verfallen könne.[11] Deshalb besuchte Gandhi ab November 1887 ein Semester lang erfolglos das indische Samaldas College in Bhavnagar.[12] Auf Wunsch seines verstorbenen Vaters sollte er Rechtsanwalt werden. Die Familie beriet darüber mit einem Freund des Vaters und kam im Mai 1888 zu dem Entschluss, er solle ein Jurastudium aufnehmen. Er selbst favorisierte das Studienfach Medizin, was sein Bruder jedoch ablehnte, da den Mitgliedern der Bania-Kaste das „Zerlegen“ von Fleisch und damit die Tätigkeit als Mediziner aus religiösen Gründen untersagt war.[6]

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Gandhi als Student in London (Ende 1880er Jahre)

Das Familienoberhaupt, sein ältester Bruder, lieh ihm das Geld für Reise und Studium. Gandhi legte ein Gelübde ab, während seines Aufenthaltes in England den Hinduismus weiter zu praktizieren, und versprach seiner Mutter, den westlichen Verlockungen zu widerstehen.[13] Weil bis dahin kein Angehöriger der Bania-Kaste im Ausland gewesen war, wurde am 10. August 1888 eine Kastenversammlung einberufen, um über den Fall zu beraten. Trotz des Verweises auf sein Gelübde beschloss die Versammlung, ihm im Falle einer Auslandsreise die Kastenzugehörigkeit zu entziehen.[6] Gandhi hielt jedoch an seiner Entscheidung fest und galt seitdem als Kastenloser, was einen weitgehenden Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutete.

Vom 4. September bis zum 28. Oktober 1888 dauerte die Seereise nach London in Begleitung von Doktor Pranjivan Mehta, einem Bekannten seines Bruders, der ihm während seines Aufenthaltes in England als Ansprechpartner zur Verfügung stand. Gandhi musste feststellen, dass seine Englischkenntnisse noch unzureichend waren.[6] Kurz nach seiner Ankunft – indische Beamte hatten ihm in London eine Unterkunft besorgt – meldete er sich an der juristischen Universität Inner Temple an.

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Gandhi 1890 in der Vegetarischen Gesellschaft (untere Reihe, Dritter von links)

Wenig später trat er der Vegetarischen Gesellschaft bei und wurde nach einiger Zeit deren Schriftführer.[14] Die Angehörigen dieser Organisation vertraten die Auffassung, niemand habe das Recht, die Natur über Gebühr auszunutzen. Grundlage dafür sei eine vegetarische Ernährungsweise. Die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft veranlasste Gandhi, aus Überzeugung auf den Verzehr von Fleisch zu verzichten, vorher hielten ihn allein Religion und Tradition davon ab. Dort kam er in Kontakt zur Theosophical Society.

Gandhi beschäftigte sich in London viel mit religiöser Literatur. In Indien hatte er gegenüber dem Christentum, auch aufgrund des Auftretens christlicher Missionare, Vorbehalte entwickelt. Nun setzte er sich mit dieser Religion inhaltlich auseinander. Das Alte Testament stieß ihn zunächst ab; angesprochen fühlte er sich hingegen von der Bergpredigt.[15] Er erklärte: „Ich werde den Hindus sagen, dass ihr Leben unvollständig ist, wenn sie nicht ehrerbietig die Lehren Jesu studieren.“[16] Schwierigkeiten hatte er aber damit, Jesus Christus als einzigen Sohn Gottes anzuerkennen. Er könne, so der vom Hinduismus geprägte Gandhi in seiner Autobiographie, nicht glauben, „dass Jesus der einzige fleischgewordene Sohn Gottes sei und dass nur, wer an ihn glaubt, das ewige Leben haben solle. Wenn Gott Söhne haben konnte, dann waren wir alle seine Söhne. Wenn Jesus gottgleich oder selbst Gott war, dann waren wir alle gottgleich und konnten selbst Gott werden.“[17]

Außerdem las er in dieser Zeit zum ersten Mal die Verse der hinduistischen heiligen Schrift Bhagavad Gītā („der Gesang Gottes“), die ihm sein Leben lang das wichtigste Buch werden sollte, in dem er später täglich las. Er übersetzte den Text in seine Muttersprache Gujarati, schrieb Erläuterungen und widmete ihn den Armen. Überdies beschäftigte er sich mit Buddha und Mohammed, dem Religionsstifter des Islam. Er war der Meinung, dass der wahre Glaube die Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen vereint.[18]

Zudem war Gandhi darum bemüht, sich in die Gesellschaft zu integrieren, indem er Tanz- und Französischunterricht nahm und sich an die englische Mode anpasste.[14] Das ihm noch recht unbekannte Land beeindruckte Gandhi. Insbesondere faszinierten ihn Pressefreiheit und Streikkultur. Er beschäftigte sich mit politischen und gesellschaftlichen Strömungen wie Sozialismus, Anarchismus, Atheismus und Pazifismus.

1889 reiste Gandhi nach Frankreich, um die Weltausstellung in Paris zu besuchen und den Eiffelturm zu besteigen.[19] Im Dezember 1890 legte er erfolgreich das juristische Examen ab und wurde am 10. Juni 1891 nach bestandener Abschlussprüfung als Barrister an englischen Obergerichten zugelassen.[6] Er durfte seinen Beruf als Rechtsanwalt nun überall ausüben, wo das britische Recht Geltung hatte. Am 12. Juni trat er die Heimreise an.[14]

Arbeit als Anwalt in Indien

Erst als Gandhi 1891 in seine Heimat zurückkehrte, wurde ihm die Nachricht überbracht, dass seine Mutter ein Jahr zuvor gestorben war. In England hatte seine Familie ihm diese tragische Neuigkeit nicht mitteilen wollen. Er hatte nun beide Elternteile verloren und musste mehr Verantwortung für die gesamte Familie übernehmen.[20]

Von 1891 bis 1893 arbeitete er als Rechtsanwalt in Bombay und ein halbes Jahr später in seiner Heimatstadt Rajkot. Obwohl er nunmehr gut ausgebildet war und sowohl über ein Anwaltspatent als auch über ein eigenes Büro verfügte, hatte er beruflich wenig Erfolg und konnte seine Familie kaum unterstützen, die sich durch sein Studium verschuldet hatte.[21] Der Beruf lag ihm nicht. Er verfügte nicht über die notwendige Erfahrung hinsichtlich der Rechtsprechung in Indien. Des Weiteren bereitete ihm seine Schüchternheit große Probleme. Ein halbes Jahr verbrachte er in Bombay und hospitierte die meiste Zeit bei Gerichtsverhandlungen seiner erfahreneren Kollegen. Denn um Mandanten zu gewinnen, war es erforderlich, andere Anwälte zu bestechen, um sie zur Abgabe von Fällen zu bewegen. Gandhi lehnte diese Korruption jedoch ab. Als es ihm 1892 endlich gelang, einen Fall zu übernehmen, verlor er die Nerven, sodass er nicht sprechen konnte und den Gerichtssaal unter dem Gelächter der Anwesenden verließ.[22] Daraufhin legte er den Fall nieder und zog in seine Heimatstadt Rajkot.

In London war Gandhi mit dem westlichen Lebensstil vertraut geworden, den er teilweise übernahm. Seine Ehefrau lernte beispielsweise wie britische Frauen Lesen und Schreiben, und seine Kinder sollten europäisch erzogen werden. Lakshmidas befürwortete dies, während seine Ehefrau zunächst Vorbehalte hatte. Zugleich versuchte er, sich wieder mit seiner Kaste zu versöhnen, und strebte eine Wiederaufnahme an. Er pilgerte an das Ufer des Flusses Godavari, um sich von der Reise über das schwarze Wasser zu reinigen, und bezahlte die geforderte Buße. Allerdings hatte er mit seiner Sühne nur teilweise Erfolg; viele, unter anderem die Verwandtschaft seiner Ehefrau, hielten seine Wiedergutmachungsversuche für inakzeptabel.[23]

Drei Vorbilder nannte Gandhi für sein Leben: den indischen Philosophen Shrimat Rajchanda, den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi und den englischen Philanthropen John Ruskin.[24]

Gandhi in Südafrika

Anlass der Reise und erste Eindrücke

Im April 1893 schickte ihn seine Familie zu dem indischen Geschäftsmann und Freund der Gandhis Dada Abdullah nach Pretoria, um einen Rechtsstreit zu lösen. Gandhi eignete sich für diese Aufgabe, weil britische Anwälte dunkelhäutige Mandanten in der Regel recht nachlässig vertraten. Deshalb war es sinnvoll, einen rechtskundigen Landsmann heranzuziehen. Gandhi war davon überzeugt, dass Dada Abdullah im Recht war, und vereinbarte 1894 einen außergerichtlichen Vergleich mit Abdullah und seinem Prozessgegner,[6] der ihm 40.000 Pfund schuldete. Bei dem Treffen einigten sie sich auf eine Ratenzahlung der Summe, um Abdullahs Schuldner vor einer vollständigen Insolvenz zu bewahren. Gandhi hatte seinen ersten Fall in Südafrika somit innerhalb eines Jahres erfolgreich abgeschlossen und erfuhr große Anerkennung von den indischen Kaufleuten, die in Südafrika Handel betrieben.

Ende Mai 1893 kam Gandhi mit dem Schiff an der Küste Südafrikas in der Hafenstadt Durban an. In seiner Autobiographie berichtet er von einem Erlebnis während seiner Zugfahrt von Durban nach Pretoria, von dem er sehr geprägt wurde. Wie gewohnt wollte er erster Klasse fahren, wurde jedoch als „Farbiger“ von einem Schaffner aufgefordert, in den Gepäckwagen umzusteigen. Als er sich weigerte, warf ihn der Schaffner in Pietermaritzburg aus dem Zug.[25] Um nach Johannesburg zu gelangen, fuhr er mit einer Postkutsche, da eine Zugverbindung nicht vorhanden war. Er wurde auf den Kutschbock verwiesen und vom Schaffner aufgefordert, sich auf den Boden zu setzen. Als Gandhi sich dieser Aufforderung widersetzte, schlug der Schaffner ihn und versuchte, ihn vom Kutschbock zu stoßen.[26] In Johannesburg angekommen, löste er für die Zugreise nach Pretoria trotz seiner schlechten Erfahrungen wiederum eine Fahrkarte für die erste Klasse. Dieses Mal entging er einer weiteren Erniedrigung, weil die weißen Mitreisenden ihn duldeten.[27] Mit der Zeit begriff Gandhi, dass er zwar offiziell ein gleichberechtigter Staatsbürger war, aber faktisch trotz seiner Angehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht durch seine Herkunft nur als Mensch zweiter Klasse angesehen wurde. Er schreibt:

Die Belästigungen, die ich persönlich hier zu dulden hatte, waren nur oberflächlicher Art. Sie waren nur ein Symptom der tiefer liegenden Krankheit des Rassenvorurteils. Ich musste, wenn möglich, versuchen, diese Krankheit auszurotten und die Leiden auf mich zu nehmen, die daraus entstehen würden.

Das Problem der Rassendiskriminierung bezog Gandhi dabei jedoch allein auf die indische Bevölkerung Südafrikas. Für die schwarze Bevölkerung übernahm er den von den Kolonialisten gebräuchlichen abwertenden Ausdruck Kaffir und empörte sich darüber, dass Inder von den Europäern „auf die Stufe der ungeschlachten Kaffirs degradiert“ würden. Er stellte fest, es gebe „große Unterschiede ... zwischen British Indians und den Kaffir-Rassen Südafrikas“ und sprach sich wiederholt vehement gegen die Vermischung von Indern mit der lokalen Bevölkerung aus.[28] Während er die Segregation von Indern gegenüber Europäer ablehnte, war er der Ansicht, eine Separation von Indern und kaffirs sei eine „physische Notwendigkeit“.[29]

Erste Widerstandsaktionen

Motiviert durch die ihm selbst widerfahrenen Diskriminierungen durch die Rassentrennung, begann er, sich für die Rechte der indischen Minderheit von damals etwa 60.000 Menschen in Südafrika zu engagieren. Die Wut über die Vorfälle half ihm, seine Schüchternheit zu überwinden. Bereits eine Woche nach seiner Ankunft rief er in Pretoria eine Versammlung der dort lebenden Inder ein und schlug die Gründung einer indischen Interessenvertretung vor. Seine Zuhörer stimmten ihm mit Begeisterung zu.

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Gandhi (hintere Reihe, Vierter von links) mit den Gründern des Natal Indian Congress (Fotografie aus dem Jahr 1895)

Die Kolonialregierung hatte vor, den Indern das Wahlrecht zu entziehen (Franchise Bill), weil sie deren Einfluss auf die Politik vermindern wollte. Als Gandhi kurz vor seiner Abreise von dem Vorhaben erfuhr, beschloss er, zur Organisation des Widerstandes gegen dieses Gesetz in Südafrika zu bleiben.[6] Er reichte – unterstützt von 500 weiteren Indern – eine Petition beim Parlament ein. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern.[30]

Gandhi gründete im August 1894 den Natal Indian Congress (kurz: NIC) in Natal nach dem Vorbild des 1885 gegründeten Indian National Congress.[31] Die regelmäßigen Versammlungen des Kongresses verbesserten nebenbei die Beziehungen zwischen den Indern der verschiedenen Kasten und Religionen.

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Gandhis vier Söhne mit seiner Ehefrau Kasturba in Südafrika 1902

Am 3. September 1894 wurde Gandhi vom Obersten Gerichtshof in Natal als erster indischer Anwalt zugelassen.[6] Neben den Kaufleuten vertrat Gandhi als Rechtsanwalt auch die Kulis.[6] Diese Bevölkerungsgruppe bestand aus indischen Vertragsarbeitern, die für jeweils fünf Jahre nach Südafrika geholt wurden. Mit Gandhi besaßen sie einen Rechtsanwalt, der sich für ihre Interessen einsetzte. Gandhi erlangte auf diese Weise Popularität und Beliebtheit bei den Kulis, die einen großen Teil der damaligen indischen Bevölkerung Südafrikas bildeten, sich eine Mitgliedschaft im Natal Indian Congress jedoch nicht leisten konnten.

Von der Regierung wurde ein weiteres diskriminierendes Gesetz geplant, nach dem für Vertragsarbeiter, die nach Vertragsablauf in Natal bleiben wollten, eine jährliche Kopfsteuer in Höhe von 25 Pfund eingeführt werden sollte. Nach einer öffentlichen Kampagne des Natal Indian Congress wurde die Steuer auf drei Pfund gesenkt. Zwar stellten auch drei Pfund eine Belastung dar, aber eine Steuer in Höhe von 25 Pfund pro Jahr hätte eine Ausweisung nahezu aller Kulis bedeutet, die nach Ablauf ihres Vertrages in Südafrika bleiben wollten, weil sie in der Regel nicht im Stande gewesen wären, die hohe Summe aufzubringen.[32]

Im Juni 1896 fuhr Gandhi für sechs Monate zurück nach Indien, um Kasturba und seine beiden Kinder Harilal und Manilal nachzuholen. Er hatte zwei Schriften angefertigt, in denen er die schwierige Situation der Inder in Südafrika schilderte. Seine Schriften, das sogenannte Green Pamphlet,[6] wurden von mehreren Tageszeitungen auszugsweise veröffentlicht; die Inder reagierten bestürzt. Gandhi traf sich während seines kurzzeitigen Aufenthaltes mit einflussreichen indischen Politikern, wie dem Reformer Gopal Krishna Gokhale und dem revolutionswilligen Bal Gangadhar Tilak.[6]

Im Dezember 1896 kehrte Gandhi mit seiner Familie nach Südafrika zurück und wurde dort von etwa 5000 weißen Gegnern, die von seinen Schriften empört waren, umringt und niedergeschlagen.[33] Unter Polizeischutz musste Gandhi zu einem Freund gebracht werden, vor dessen Haus sich wiederholt eine zornige Menge von Menschen versammelte. Obwohl der Lynchversuch in London bekannt wurde und der Kolonialminister Joseph Chamberlain dazu aufforderte, die Schuldigen zu bestrafen, verzichtete Gandhi, der Namen von Tätern kannte, auf Erstattung einer Anzeige. Er trug damit zur Entspannung der Lage bei, da seine Verfolger seine Haltung respektierten.[6][34]

Gandhi mischte sich in häusliche Angelegenheiten sehr stark ein – anders als die traditionelle Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau es vorsah. So ordnete er beispielsweise an, was gekocht wird, und wirkte bei der Erziehung und Pflege seiner Kinder maßgeblich mit. Als 1900 sein vierter Sohn Devdas geboren wurde, übernahm er sogar die Aufgabe des Geburtshelfers, da in dem Moment keine Hebamme zugegen war. Des Weiteren ließ er aus Achtung und Rücksicht auf die Unberührbaren nicht zu, dass sie die Nachttöpfe seiner Familie entsorgten, und übernahm selbst diese Aufgabe. Er zwang auch Kasturba dazu, die immer mehr an dem ungewöhnlichen Verhalten ihres Ehemannes verzweifelte.[35]

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Gandhi (oben, Mitte) im Zweiten Burenkrieg (ca. 1899/1900)

Zweiter Burenkrieg

Während des Zweiten Burenkrieges 1899 bewegte Gandhi eine Anzahl von 1100 Indern dazu, die Briten im Krieg zu unterstützen, um ihre Loyalität zu beweisen, die Inder als pflichtbewusste Bürger zu präsentieren und dadurch mehr Anerkennung für sie zu gewinnen.[6] Weil Hindus aus Glaubensgründen in keinem Fall Menschen töten dürfen, leisteten die Inder nur Sanitätsdienst. Trotz der Anerkennung ihrer Dienste traten grundlegende Verbesserungen ihrer Situation nicht ein.[36] Schon kurz nach dem Ende des Burenkrieges 1902 folgte das nächste diskriminierende Gesetz, das Inder zwang, sich vor einer Einreise in die Burenrepublik registrieren zu lassen.[37]

Gandhi wollte, dass die Inder als gleichberechtigte britische Bürger von der Gesellschaft angesehen und akzeptiert werden, das Eintreten für Unabhängigkeit stand noch nicht auf seiner Agenda.[38]

Einjähriger Aufenthalt in Indien

Gandhi kam 1902 zu dem Entschluss, nach Indien zurückzukehren, um in Bombay eine Rechtsanwaltspraxis zu eröffnen und sich für die Rechte der Inder gegenüber der Kolonialmacht einzusetzen.[39]

Er besuchte Sitzungen des Indian National Congress, lernte dort viele bedeutende indische Politiker kennen und traf seinen politischen Mentor Gopal Krishna Gokhale[40] wieder, der im Vergleich zu Bal Gangadhar Tilak gemäßigtere Ansichten vertrat. Gokhale versuchte, die britischen Politiker durch Petitionen zu beeinflussen und auf diese Weise Indien Schritt für Schritt zu wandeln und das Mitspracherecht der Inder zu erweitern. Gandhi war jedoch vom Indian National Congress enttäuscht, weil der Kongress seiner Ansicht nach keine grundlegenden Verbesserungen für das alltägliche Leben der indischen Bevölkerung herbeiführte.

In dieser Zeit bereiste Gandhi Indien, und zwar in der dritten Klasse, weil er sich mit dem einfachen Volk vertraut machen wollte.[41]

Rückkehr nach Südafrika, Phoenix-Siedlung

Auf Anfrage seiner Mitstreiter kam Gandhi im Dezember 1902 zurück nach Südafrika, um mit dem britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain, der Südafrika besuchte, über die Rechte der Inder zu verhandeln. Es gelang ihm nicht, Chamberlain von seinen Ansichten zu überzeugen, und das Gespräch endete ergebnislos. Daraufhin folgte Gandhi ihm nach Pretoria und bat um ein zweites Gespräch, das ihm allerdings verweigert wurde.[42]

Gandhi ließ sich im Februar 1903 in Johannesburg nieder und arbeitete dort als Rechtsanwalt. Weil er bei der indischen Bevölkerung ein hohes Ansehen genoss, gewann er viele Klienten. Obwohl er sich nur von Klienten bezahlen ließ, die es sich leisten konnten, war sein Verdienst recht hoch, und er konnte Geld zurücklegen.[43] Im Dezember 1903 kam seine Familie nach.

Zu dieser Zeit brach eine Lungenpest aus, von der aufgrund der schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen besonders die Bergarbeiter betroffen waren. Gandhi kümmerte sich um die Pflege der Erkrankten und finanzierte die Behandlung.[44]

Er gründete 1904 in Inanda die Zeitung Indian Opinion, die auf Englisch sowie in einigen indischen Sprachen herausgegeben wurde und sich mit der Zeit zum Sprachrohr der Inder entwickelte. Einen großen Teil der Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Geld des Natal Indian Congress investierte er in den Druck, denn die Druckkosten waren aufgrund der stark ansteigenden Auflage sehr hoch.

Inspiriert von dem britischen Schriftsteller John Ruskin, der in seinem Werk Unto this last Ethik und Wirtschaft verbindet, gründete Gandhi Ende 1904, unterstützt von Freunden und Verwandten, die Phoenix-Farm in Inanda, wo er und einige seiner Mitstreiter ihr Leben so anspruchslos wie möglich gestalteten. Alles, was sie zum Leben brauchten, versuchten sie in eigener Produktion herzustellen. Auch die Indian Opinion, für die Gandhi regelmäßig Beiträge schrieb und deren Chefredakteur er war, wurde in der kleinen Siedlung gedruckt. Im Dezember 1904 erschien die erste Ausgabe.[45]

Askese und ethische Prinzipien

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Gandhi 1906 in Südafrika

Doch schon bald kehrte er nach Johannesburg zurück, wo seine juristischen Kompetenzen gebraucht wurden. 1905 holte er Kasturba und drei seiner Söhne nach, die sich zwischenzeitlich für einige Zeit in Indien aufgehalten hatten, während der älteste Sohn Harilal in Rajkot blieb. Kasturba litt unter dem ungewohnten spartanischen Leben, das ihr Ehemann in seinem Haus in Johannesburg weiterführte. 1906 legte er nach Diskussionen mit Vertrauten über das Für und Wider ein Keuschheitsgelübde ab und informierte erst danach seine Ehefrau, ohne ihr die Scheidung anzubieten. Er wollte sich vollständig auf seine politischen Aktivitäten konzentrieren.[46] Damit erhoffte er, die sexuelle Energie in spirituelle umzuwandeln, und warf sich seit dem grausam niedergemetzelten Zulu-Aufstand häufig vor, Gewalttaten anderer nicht verhindern zu können.[47]

Gandhi übte Brahmacharya (das „Eine-Wahre“, verbunden mit sexueller Enthaltsamkeit), was sich weniger auf das erste der vier klassischen Lebensstadien im Hinduismus bezieht als vielmehr aus der Yoga-Lehre stammt und innerhalb von Yama ein Moralprinzip bildet, wie auch Ahimsa, die Gewaltlosigkeit. Zugleich begann er immer mehr, mit seiner Nahrung zu experimentieren, die nun roh, ungewürzt und so einfach wie möglich zu sein hatte. Dies nannte er Swaraj, was Selbstzucht und Selbstbeherrschung bedeutet und nicht nur individuell, sondern auch politisch gemeint war als Herrschaft über sich selbst.[48] Seine kastenübergreifende religiöse Ausrichtung wird auch als Neohinduismus bezeichnet.[49]

Ein anderer wichtiger Grundbegriff in Gandhis Ethik war seine Wortschöpfung Satyagraha („Festhalten an der Wahrheit“), ein Ausdruck, den er geprägt hatte, um nicht von passivem Widerstand zu sprechen.[50] Er verfolgte damit eine aktive Strategie der Nichtkooperation, d. h. Übertretung ungerechter Gesetze und Anweisungen, Streiks, einschließlich Hungerstreiks, Boykotte und Provokation von Verhaftungen. Satyagraha war für ihn eng verbunden mit Gewaltlosigkeit:

Wahrheit schließt die Anwendung von Gewalt aus, da der Mensch nicht fähig ist, die absolute Wahrheit zu erkennen, und deshalb auch nicht berechtigt ist zu bestrafen.

Die Satyagraha-Bewegung entwickelte sich nach und nach von den Zulu-Aufständen an, über die Kampagne gegen die Meldegesetze bis zum schließlich erfolgreichen Kampf um die Unabhängigkeit Indiens.

Zulu-Aufstand

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Gandhi (mittlere Reihe, Vierter von links) und seine Sanitätereinheit während des Zulu-Aufstands von 1906

Im Februar 1906 töteten Angehörige der Zulu zwei Polizisten, nachdem eine neue Kopfsteuer erlassen worden war. Daraus entwickelten sich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen 1500 nur mit Speeren bewaffneten Ureinwohnern und britischen Kolonialtruppen in Verbindung mit Polizeieinheiten.

Wie schon während des Burenkrieges forderte Gandhi am 17. März seine Landsleute auf, eine Sanitätereinheit zu bilden. Er rückte mit nur 24 Mann an und half Verwundeten beider Seiten. Gandhi war von der Gewalt der militärisch weit überlegenen Briten bestürzt, die den Aufstand im Juli 1906 brutal niederschlugen und die Überlebenden sowie sympathisierende Zulu inhaftierten oder deportierten.[51]

Widerstand gegen das Meldegesetz, Beginn der Satyagraha-Bewegung

In Transvaal wurde im März 1907 ein Meldegesetz (Asiatic Law Amendment Act) ausschließlich für Inder in Kraft gesetzt.[52] Bei der Registrierung nahmen die Meldebüros Fingerabdrücke zur Identifikation und gaben Meldescheine aus, die Inder stets bei sich tragen mussten. Am 1. Januar 1907 war Transvaal politisch unabhängig geworden, und das Gesetz konnte mit einer ausschließlich formalen Zustimmung der britischen Regierung erlassen werden.

Gandhi organisierte eine Versammlung, auf der etwa 3000 Inder schworen, die Meldepflicht zu ignorieren. Außerdem reiste er nach London und führte Gespräche mit britischen Politikern. Das Ergebnis war für Gandhi dieses Mal befriedigend; das Meldegesetz wurde gestoppt.

Weil die meisten Inder, die einen Schwur zum Brechen des Gesetzes abgelegt hatten, die Registrierung verweigerten, verlängerte der Innenminister Jan Christiaan Smuts die Frist. Er drohte bei Nichteinhaltung des Ultimatums mit Gefängnisstrafen und Deportationen. Trotz der Drohungen ließen sich nur wenige weitere Inder registrieren. Mit der Übertretung des ungerechten Meldegesetzes fand die Satyagraha-Bewegung ihren Anfang.

Ende Dezember 1907 wurden Gandhi und 24 seiner Satyagrahis verhaftet. Viele seiner Anhänger protestierten vor dem Gerichtsgebäude, und weitere Inder ließen sich verhaften, sodass sich Ende Januar bereits 155 Inder im Gefängnis befanden. Während seines zweimonatigen Gefängnisaufenthaltes las Gandhi ein Essay des US-Amerikaners Henry David Thoreau aus dem Jahr 1849, in dem die Strategie des zivilen Ungehorsams behandelt wird. Darin fand Gandhi seine Philosophie wieder.

Schließlich schlug er die Registrierung der Inder und im Gegenzug die Abschaffung des Meldegesetzes vor. Jan Christiaan Smuts erklärte sich zu dem Kompromiss bereit und entließ Gandhi und seine Anhänger aus dem Gefängnis. Als Gandhi dem Gesetz selbst nachkommen wollte, versuchten einige Inder, die nicht an das Versprechen Smuts’ glaubten, vergeblich, ihn durch Gewalt davon abzuhalten. Obwohl die meisten Inder sich registrieren ließen, wurde das Gesetz dennoch erlassen. Gandhi bemerkte, dass seine Prinzipien von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit von den Briten nicht eingehalten wurden. Gandhi lehnte es ab, seine politischen Pläne geheim zu halten, vielmehr gehörte Transparenz zu seinem Programm. Damit wollte er Anhänger gewinnen, aber auch die Gegner herausfordern, sich selbst infrage zu stellen.[53]

Im August 1908 verbrannten Tausende Inder, angeführt von Gandhi, auf einer Versammlung in Johannesburg ihre Meldescheine. Er und seine Anhänger reisten in Gruppen aus Natal zur Grenze Transvaals, um eine Massenverhaftung zu provozieren. Er selbst sowie 250 seiner Anhänger wurden zu zwei Monaten Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Im Dezember 1908 wurde Gandhi wieder freigelassen und pflegte Kasturba, die zwischenzeitlich schwer erkrankt war. Anschließend fuhr er wiederholt nach Transvaal, um sich erneut inhaftieren zu lassen.[54]

Die Regierung unternahm durch Behinderung des Handels und Verweigerung von Aufenthaltsgenehmigungen Versuche, die Inder wieder besser unter Kontrolle zu bekommen. Nach Ansicht der Händler hatte die Bewegung Gandhis sich zu sehr radikalisiert; schließlich waren auch sie von den Gegenmaßnahmen der Regierung betroffen. Die Folge war, dass viele Geschäftsleute die aktive und finanzielle Unterstützung einstellten. Dadurch ergaben sich für Gandhi finanzielle Engpässe, denn seine Arbeit als Rechtsanwalt hatte er zugunsten der Organisation des Widerstandes bereits aufgegeben.

Während der Kampagne gegen das Meldegesetz hatte sich Gandhi mit dem Prozess des Sokrates befasst, Sokrates als verwandten Denker entdeckt und seine Verteidigungsrede in die indische Sprache Gujarati übertragen. Diese Schrift war später in Indien von der Zensur betroffen.[55]

Das Manifest Hind Swaraj or Indian Home Rule

1909 reiste Gandhi nach London und traf dort radikale indische Revolutionäre. Diese Gespräche veranlassten ihn, seine Philosophie nochmals zu überdenken. Sein Buch Hind Swaraj or Indian Home Rule (deutsch: Indiens Freiheit oder Selbstregierung)[56] ist teilweise zivilisationskritisch geprägt. So behauptet er hier, Ärzte und Rechtsanwälte seien in Indien überflüssig, obwohl er noch ein Jahr zuvor indische Ärzte und Rechtsanwälte in Südafrika für unabdingbar erklärt hatte, kritisiert die britische Gesellschaft und Regierung und erklärt, das anspruchslose Leben habe vor dem wirtschaftlichen Fortschritt und Wachstum Vorrang. Der britischen Herrschaft über Indien könne durch Verweigerung der Zusammenarbeit ein Ende gesetzt werden, weil sie auf die Zusammenarbeit mit den indischen Untertanen angewiesen sei. Da die schädlichen Auswirkungen religiöser Gewalt bereits durchschaut seien und durch Annäherung abgestellt werden könnten, beurteilt er die Schäden durch die Zivilisation weitaus strenger.[57] Die von anderen verlangte Selbstregierung (Home Rule) sei mit der Übernahme des britischen Politik- und Gesellschaftssystems verbunden und stehe damit im Gegensatz zu Indiens wirklicher Selbstbestimmung (Swaraj).

Die Schrift wurde zunächst auf Gujarati in seiner Zeitung Indian Opinion veröffentlicht, 1910 auf Englisch. Die gujaratische Fassung kam auf die koloniale Verbotsliste, weil sie für viele Inder im Gegensatz zur englischen Ausgabe verständlich war.[58] Gandhi schickte die Arbeit auch an Leo Tolstoi, der Gandhi durch seine Schriften, insbesondere durch Das Reich Gottes ist inwendig in euch und die Kurze Darlegung der Evangelien, bereits in jungen Jahren stark beeinflusst hatte. Kurz vor seinem Tod las Tolstoi das Manifest und bestärkte Gandhi in einem Brief.

Die Tolstoi-Farm

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Die Tolstoi-Farm 1913

Gandhi ließ sich in Transvaal nieder. Dort verfügte er jedoch weder über eine Unterkunft noch über Einkünfte. Der deutsche Architekt Hermann Kallenbach, Sohn jüdischer Eltern, mit dem er befreundet war, stellte ihm deshalb im Mai 1910 ein Stück Land zur Verfügung. Zusammen mit weiteren Mitstreitern wollte er die in der Phoenix-Siedlung praktizierte Lebensweise fortsetzen und seine Ideale wirtschaftlicher Autarkie und Besitzlosigkeit verwirklichen. Die Siedlung nannten sie Tolstoi. 1912 verpflichtete sich Gandhi, auf jeglichen Privatbesitz zu verzichten.[59] Im selben Jahr kam Gokhale zur Tolstoi-Farm und fuhr mit Gandhi durch Südafrika, hielt überzeugende faktenreiche Reden, von denen Gandhi viel lernte, und erreichte Zugeständnisse von der Regierung Smuts hinsichtlich der Registrierung und Kopfsteuer, die aber wiederum nicht eingehalten wurden.[60]

Widerstand gegen das Ehegesetz

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Der Protestmarsch nach Transvaal 1913
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Gandhi 1913, als Satyagrahi

Nach einem neuen Gesetz, das 1913 beschlossen worden war, wurden nur noch christlich geschlossene Ehen offiziell als gültig angesehen. Die Inder waren aufgebracht, schließlich lebten sie somit im Konkubinat und die Kinder galten als unehelich. Gandhi ermutigte seine Landsleute zum gewaltlosen Widerstand gegen das Gesetz. Indische Arbeiter streikten, auch die Frauen protestierten. Die Briten reagierten mit Gewalt auf diese Aktionen, und die Frauen wurden verhaftet. Gandhi und seine Anhänger marschierten zur Grenze nach Transvaal, um eine erneute Massenverhaftung auszulösen. Während der Aktion wurde Gandhi mehrmals verhaftet und wieder freigelassen.[61] Als sie schließlich an der Grenze ankamen, kam er ebenso wie seine Satyagrahis, darunter auch Hermann Kallenbach, ins Gefängnis in Bloemfontein. Weitere Anhänger Gandhis wurden in Bergwerken eingesperrt, weil die Gefängnisse inzwischen ausgelastet waren.

Auf Druck der Weltöffentlichkeit sah sich Jan Christiaan Smuts gezwungen, eine Untersuchungskommission einzurichten, die jedoch nur aus weißen Mitgliedern bestand. Aus diesem Grund verweigerte Gandhi, der inzwischen wieder aus dem Gefängnis entlassen worden war, die Zusammenarbeit mit dieser Kommission.

Zur selben Zeit begannen die Eisenbahnarbeiter zu streiken. Dieser Streik war zwar nicht auf den Widerstand der Inder zurückzuführen, führte aber dazu, dass die Briten mit der Lage überfordert waren, obwohl Gandhi seine Widerstandsaktionen zunächst eingestellt hatte. Die Folge war, dass Anfang 1914 der Indian Relief Act verabschiedet wurde, der die Situation der indischen Bevölkerung entschieden verbesserte: Nichtchristliche Ehen wurden wieder als gültig anerkannt, sowohl die Kopfsteuer als auch die Registrierungspflicht wurden aufgehoben, und die indische Einwanderung wurde erlaubt.[62]

Die Satyagrahis hatten ihre Ziele 1914 weitgehend erreicht, und Gandhi trat Ende 1914 die endgültige Heimreise nach Indien an.

Kampf für Indiens Unabhängigkeit

Harijan Ashram: Vorbild für ein unabhängiges Indien

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Gandhis Zimmer im Harijan-Ashram mit Spinnrad

Zurück in Indien, trat er 1915 dem Indian National Congress (INC) bei und ließ sich von dessen gemäßigtem Leiter Gopal Krishna Gokhale einführen. Gleichzeitig baute er seinen Harijan Ashram auf, wo er auf der Grundlage seiner Interpretation des hinduistischen Prinzips Ahimsa (Gewaltlosigkeit) von 1918 bis 1930 lebte. Er formulierte 11 Selbstverpflichtungen für das Leben im Ashram: Liebe zur Wahrheit, Gewaltlosigkeit, Keuschheit, Desinteresse an Materiellem, Furchtlosigkeit, vegetarische Ernährung, nicht stehlen, körperliche Arbeit, Gleichheit der Religionen, Einsatz für die „Unberührbaren“ und ausschließliche Verwendung inländischer Produkte (Swadeshi).[63]

Diese Maximen des Satyagraha verband er mit der Überzeugung (Sarvodaya), wonach jeder einzelne Mensch durch Selbstverpflichtung und Selbstbeherrschung zum Wohl aller Menschen beiträgt, sodass sein moralischer Aufstieg und das daraus resultierende Handeln dem Fortschritt aller dient.[64] Das einfache, bäuerliche, ethisch und religiös begründete und auf Selbstversorgung beruhende Leben der kleinen Ashram-Gemeinschaft wollte er zum Vorbild für ein freies, auch wirtschaftlich von Großbritannien unabhängiges Indien machen.

Er bediente selbst ein altes Spinnrad, lehnte den Gebrauch der englischen Sprache mehr und mehr ab und ließ Schüler in seinem Sinne unterweisen.[65] Das Spinnen wurde zum Symbol der indischen Unabhängigkeit. Gandhi erwartete, dass sich möglichst viele Menschen daran beteiligten. Er bediente das Spinnrad selbst in politischen Versammlungen.[66] Um seine Spinnradkampagne zu finanzieren, unternahm er Bahnreisen in der dritten Klasse durch Indien und sammelte Spenden, die ihm großzügig zuteilwurden. Damit erwarb er Spinnräder für die Bauern, ließ Lehrer für Spinnen und Weben ausbilden und gab Geld für Geschäfte, die Textilien aus den Dörfern verkauften. Das Spinnrad ist noch heute Teil der indischen Flagge.[67]

Madeleine Slade, von Gandhi Mirabehn genannt, die Tochter des britischen Kommandeurs der ostindischen Flottenstation in Bombay, Sir Edmund Slade, schloss sich der Gemeinschaft an und hatte lange Jahre ein sehr enges Verhältnis zu Gandhi.[68]

Ab 1928 gab es Auseinandersetzungen im Ashram, da Gandhi seine Lebensprinzipien streng zur Maxime der gesamten Gemeinschaft machen wollte. So sollten beispielsweise nur noch ungewürzte Lebensmittel gegessen werden, private Ersparnisse waren nicht erlaubt. Gandhi entließ bezahlte Arbeitskräfte und verlangte, die Ashramgemeinschaft sollte die Arbeiten selbst übernehmen. Er verließ 1930 den Ashram, in dem sich heute ein Gandhi-Museum befindet.[69]

Der „Anarchist anderer Art“, Weggefährten

Seine erste Rede in Indien hielt Gandhi als Gastredner zur Eröffnung der Banaras Hindu University im Februar 1916. Auf dem Podium saßen der Gründer der Universität, Annie Besant, Politiker und Fürsten. Gandhi drückte zunächst sein Bedauern aus, dass er die Rede nicht in einer der indischen Sprachen vortrug, sondern in Englisch halten musste, erklärte die Vorteile der Gewaltlosigkeit gegenüber gewaltsamen Aktionen und bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als „Anarchist anderer Art“.[70] Annie Besant protestierte, es kam zu einem Tumult, und die Rede musste abgebrochen werden. Die Auseinandersetzungen zwischen Gandhi und Besant wurden auch öffentlich in der Presse ausgetragen. Gandhi kritisierte, dass Besant nur die Mittel- und Oberschicht anspreche, nicht aber die Masse der Bauern. Außerdem war er der Meinung, der indische Unabhängigkeitskampf dürfe nur von Indern ausgetragen werden.[71]

Gandhis Verhältnis zum Anarchismus war vielschichtig. Er teilte die anarchistische Ansicht, die Macht des Staates unterdrücke das Individuum, das für ihn die „Wurzel allen Fortschritts“ darstellte.[72] Ebenso stimmte er mit Henry David Thoreau darin überein, die Regierung sei am besten, die am wenigsten regiere und war der Ansicht, „eine Demokratie basierend auf Gewaltlosigkeit“ sei „die größte Annäherung an reinen Anarchismus“[73] Individuen sollten nach Gandhi basierend auf ihrer selbst erkannten Wahrheit agieren, unabhängig von Beurteilung und Konsequenzen durch andere. Sein Konzept der Dorfrepubliken nannte er selbst eine „erleuchtete Form des Anarchismus“, in der „jeder [sein] eigener Regent“ sei. Gandhi war jedoch (ebenso wie Thoreau) kein Anarchist im üblichen Sinne. Auch stand er im Gegensatz zu libertären Theorien, deren Ablehnung staatlicher Regulierung und Eingriffe auf der Betonung gegenseitiger Eigeninteressen beruhen, während seine Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Leidensfähigkeit das Eigeninteresse minimieren und Selbstbeschränkung und -disziplinierung vorgeben. Das Satyagraha bildet ein System der äußeren Eingrenzung in der Zusammenarbeit für das Gemeinwohl. Nicholas Gier ordnet Gandhi daher eher einem kommunitaristischen, reformierten Liberalismus zu.[72] Das Konzept des Gewaltverzichts, der persönlichen Wahrheitserkenntnis und Reinheit hat nur teilweise Entsprechung in den Theorien klassischer westlicher Anarchisten wie Proudhon, Bakunin oder Kropotkin. Das Prinzip der Ausbildung moralischer Gesetze und persönlicher Disziplin in Gandhis Gemeinschaftskonzept setzt andere Schwerpunkte als diese. Seine Überzeugung, das Individuum müsse das Göttliche in sich selbst finden, dann sei es „allen Regierungen überlegen“, ähnelt den Schriften Tolstois. Asha Pasricha bezeichnet Gandhi davon ausgehend als „religiösen Anarchisten“.[73]

Einer seiner wichtigsten Schüler und Weggefährten seit 1916 bis zu seinem Tod war Vinoba Bhave, der häufig als Gandhis spiritueller Nachfolger angesehen wird. Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger politischer und persönlicher Freund war Sadar Patel, der ihn in allen weiteren Kampagnen maßgeblich unterstützte. 1917 wurde der spätere indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru sein Sekretär.

Widerstand gegen den Ausnahmezustand

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Titelseite von Young India, September 1919

Nachdem viele Inder bereits die von der Kolonialmacht ohne indische Zustimmung dekretierte Teilnahme am Ersten Weltkrieg kritisiert hatten, führte die Verlängerung des Ausnahmezustands und des Kriegsrechts 1919 durch den Rowlatt Act zu Widerstand unter den politisch interessierten Indern unterschiedlicher Herkunft. Während liberale Politiker partielle Autonomie forderten, setzten sich radikalere wie Annie Besant für Home Rule ein, d. h. die Selbstregierung mit Bindungen zum Britischen Königreich, und wandten sich gegen Gandhi. Gandhi aber, der für Annie Besant eingetreten war, als sie sich in Haft befand, unterstrich die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien mit seinen gewaltfreien Aktionen.

Anfang April 1919 initiierte der Indian National Congress (INC) Massenproteste gegen die britische Kolonialregierung, an denen Hindus wie auch die anderen Bevölkerungsgruppen teilnahmen. Bereits am ersten Tag, dem 6. April, kam es zu streikartigen Aktionen von Händlern und Geschäftsleuten, die Gandhi als Hartal bezeichnete. Arbeit und Handel lagen für einen Tag brach, die Beteiligten sollten nach Gandhis Vorstellung fasten und beten. Seine verbotenen Schriften Hind Swaraj und Sarvodaya wurden verkauft, ohne dass die Briten eingriffen.

Die Wahl der Mittel war jedoch umstritten. Bei weiteren Aktionen hielten sich viele nicht an die Prinzipien des gewaltfreien Satyagraha. Britische Einrichtungen und Privathäuser gingen in der nordindischen Stadt Amritsar, wo zwei Anführer der Bewegung verhaftet worden waren, in Flammen auf. Daraufhin verbot der Gouverneur des Punjab alle Manifestationen und erteilte einen Schießbefehl. Britische Soldaten töteten am 19. April 1919 beim Massaker von Amritsar in einem durch eine Mauer abgegrenzten Park, wo eine friedliche Versammlung stattfand, 379 Männer, Frauen und Kinder, 1200 Menschen wurden verletzt. Die Weltöffentlichkeit wurde aufmerksam, und die Protestbewegung erhielt Auftrieb, doch Gandhi fühlte sich am Tod der Opfer des Blutbads mitschuldig.[74]

Im selben Jahr gründete Gandhi die zweisprachige Wochenzeitung Young India, in der er seine Weltanschauung verbreitete.[75]

Kalifat-Kampagne und Aufstieg im Indischen Nationalkongress

Viele indische Muslime waren empört darüber, dass das Osmanische Reich, das zu den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges gehörte, in quasi neokolonialer Manier unter den Siegermächten, zu denen auch Großbritannien gehörte, aufgeteilt werden sollte. Der osmanische Sultan galt vielen Muslimen als Kalif, als religiös-weltlicher Führer aller Muslime weltweit. Gandhi solidarisierte sich 1920/21 mit ihrer Kalifat-Kampagne – im Gegensatz zu Muhammad Ali Jinnah, dem eher säkular eingestellten Vorsitzenden der Muslimliga. Dieser Umstand führte 1920 zum Austritt Jinnahs aus dem Indischen Nationalkongress.

Es ist umstritten, ob Gandhis Engagement für die Kalifat-Kampagne langfristig das friedliche Zusammenleben zwischen Hindus und Muslime belastete und schließlich zur Teilung des Landes beitrug (die Gandhi vehement ablehnte). Rothermund (2003) bezeichnet es als „Fehler“, dass sich Gandhi ohne fundierte Kenntnisse über panislamische Bewegungen gegen den einflussreichen Jinnah stellte.[76] Laut Eberling (2006) unterschätzte Gandhi die Gegensätze zwischen Hindus und Muslime, die nicht nur religiöser, sondern auch politischer Art gewesen seien, denn die Hindus bildeten in Indien die Oberschicht.[77] Dieter Conrad (2006) erscheint Gandhis religiös gefärbte Unterstützung der Kalifatsbewegung „äußerst gewagt“. Seinen Versuch, die Unterschiede der beiden Religionen Hinduismus und Islam zu seinem eigenen Anliegen zu machen, sich auf die Seite der streng religiösen Muslime zu stellen mit dem Ziel gegenseitiger religiöser Rücksichtnahme, erwies sich als Fehlkalkulation. So hoffte Gandhi beispielsweise vergeblich auf eine freiwillige Beendigung des rituellen Kuhschlachtens seitens der Muslime. Jinnah hatte Gandhi vor dieser seiner Ansicht nach reaktionären Bewegung mehrmals gewarnt[78] und warf ihm religiösen Zelotismus vor.[79] Conrad zufolge bestätigten sich später diese Warnungen, als blutige Unruhen zwischen Hindus und Muslime zunahmen.[80]

Nach der Auseinandersetzung mit Jinnah erlangte Gandhi mehr Einfluss im Indischen Nationalkongress, der bisher eine Gemeinschaft der indischen Gebildeten gewesen war. Unter Gandhis geistiger Anleitung entwickelte er sich zur Massenorganisation und zur wichtigsten Institution der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Die indischen Sprachen sollten Vorzug vor dem Englischen bekommen, auch die Landbevölkerung sollte eine Vertretung erhalten.[81] Besonders nach der Weltwirtschaftskrise waren die Abgaben an die Kolonialherren für die Bauern sehr stark gestiegen, sodass sie sich dem INC vermehrt zuwandten.[82]

Kampagne der Nichtkooperation

Um die Briten zu zwingen, den indischen Subkontinent zu verlassen, etablierte Gandhi das Konzept der Nichtzusammenarbeit: Alle indischen Angestellten und Unterbeamten sollten nicht mehr für die Kolonialherrscher tätig werden, jegliche Kooperation sollte gewaltfrei verweigert werden, um so die Briten zu entmachten. Im August 1920 rief Gandhi die Kampagne der Nichtkooperation offiziell aus. Er glaubte, die Gewaltlosigkeit sei der Gewalt weit überlegen. Einhunderttausend Briten in Indien war es nicht möglich, ein Land von damals dreihundert Millionen Indern zu beherrschen, wenn diese jegliche Zusammenarbeit verweigerten. Zunächst stand dabei Subhash Chandra Bose an seiner Seite, ein indischer Freiheitskämpfer, der später für den Einsatz militärischer Mittel plädieren sollte.

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Aufruf zum Boykott ausländischer Kleidung in der Zeitung The Bombay Chronicle vom 30. Juli 1921

Zum ökonomischen Hintergrund gehörten die außerordentlich hohe Besteuerung des Bodens durch die Kolonialmacht und die anderen Abgaben, die die Inder zu leisten hatten, sowie die fehlenden Schutzzölle gegen Importwaren – Umstände, die der INC möglichst schnell ändern und durch autochthone wirtschaftliche und politische Strukturen ersetzen wollte.[83] Gandhi propagierte den Boykott von Importwaren, insbesondere aus Großbritannien. Durch die Herstellung selbstgesponnener Kleidung sollte jeder Inder – gleichgültig ob Mann oder Frau, arm oder reich – die Unabhängigkeitsbewegung unterstützen.[84]

Gandhi stand nunmehr auf dem Zenit seines Ruhms. Wo er auftrat, traten Arbeiter, Bauern, Regierungsangestellte und Vertreter von Bildungsinstitutionen in den Streik. Britische Importkleidung wurde öffentlich verbrannt. Die Zahl der politischen Gefangenen erreichte 20.000. Seit 1921 kleidete sich Gandhi wie die Ärmsten nur noch mit einem Lendentuch. 1922 begann er im Bardoli-Distrikt Gujarats mit Unterstützern eine Kampagne des zivilen Ungehorsams gegen eine massive Steuererhöhung. Es wurden mehrere Ashrams gegründet.

Doch auch diese Kampagne endete in Gewalt. In dem nordindischen Dorf Chauri Chaura griff eine aufgepeitschte Menge Polizisten an und verbrannte sie in der Polizeistation. Auch zwischen Hindus und Muslime kam es erneut zu Ausschreitungen. Gandhi brach daraufhin die Kampagne sofort ab, was viele Kongressmitglieder, darunter Nehru, missbilligten. Gandhi nahm in dem folgenden Prozess alle Schuld auf sich, verlor seine Zulassung als Anwalt und wurde zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Offiziell wegen einer Blinddarmoperation, wurde er bereits 1924 entlassen. Ein Grund dafür war, dass im selben Jahr erstmals eine Labour-Regierung an die Macht gekommen war, die Gandhi positiver beurteilte als die konservativen Regierungen.[85][86][87][88] Ende 1924 wurde Gandhi zum Präsidenten des INC gewählt.

1923 hatte der französische linkspazifistische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland sich mit den geistigen Traditionen Indiens beschäftigt und eine Artikelserie über Gandhi veröffentlicht, woraus das Buch Mahatma Gandhi entstand, das 1924 erstmals aufgelegt wurde und ein sehr positives Bild Gandhis zeichnete. Er nennt Gandhi den „indischen Franziskus“.[89]

Viele Kongressmitglieder folgten Gandhis Weg nicht, sondern wollten vielmehr Indien zu einem modernen Staat machen. Gandhi gab den Vorsitz der Kongresspartei 1925 turnusgemäß auf und schloss nach einem Gelübde ein Jahr des Schweigens in seinem Ashram an, eine Geste, mit der er sich gegen die „Geschwätzigkeit“ und die „Streitereien“ der Berufspolitiker wenden wollte.[90]

Gandhis Programm

Bereits 1927 veröffentlichte Gandhi seine erste Autobiographie Autobiography. The Story of My Experiments with Truth, die auf Aufzeichnungen während des Gefängnisaufenthalts 1922 bis 1924 und einer anschließenden Artikelserie in seiner auf Gujarati erschienenen Zeitung beruhte. 1928 folgten seine Lebenserinnerungen über Südafrika unter dem Titel Satyagraha in Südafrika.[91] Gandhi entwickelte darin seine Vorstellung von Demokratie: Demokratie müsse die gesamten physischen, ökonomischen und spirituellen Quellen aller unterschiedlichen Bereiche des Volkslebens im Dienste für das Gemeinwohl aller mobilisieren.[92] Das Land solle dezentral organisiert werden, wobei im Mittelpunkt das Dorf mit lokaler Selbstversorgung und -verwaltung stehen sollte. Diese Dörfer und andere Gemeinschaften sollten im Konsensverfahren eigene Vertreter wählen und so – wie Gita Dharampal-Frick es ausdrückt – den Staat als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ bilden, den Gandhi weniger als Nationalstaat denn als soziale und kulturelle Einheit mit nur wenigen ordnungspolitischen Eingriffsmöglichkeiten sah. Dieses Prinzip nannte er laut Eberling „aufgeklärte Anarchie“. Sein Fernziel war eine staatsfreie Gesellschaft.[93] Beispielsweise plante er, den Palast des britischen Vizekönigs nach der Unabhängigkeit als Krankenhaus zu nutzen. In keinem anderen kolonialisierten Land der Welt habe es so klar formulierte Alternativen zum westlichen Staats- und Wirtschaftskonzept gegeben wie die von Gandhi für Indien entwickelten, schrieb Wolfgang Reinhard 1999.[94]

Hinsichtlich der Wirtschaft setzte sich Gandhi für einen einheitlichen Lohn für alle Arbeiten ein, Privateigentum sollte von „Treuhandbesitz“ abgelöst werden. Kapitalismus und Sozialismus lehnte er zugunsten einer egalitären, vorindustriellen, wenig bürokratischen Gesellschaft ab.[95] Soziale Ungleichheit wollte er durch allgemeine nichtintellektuelle Bildung überwinden. In religiösen Fragen vertrat er Toleranz. Das indische Kastensystem lehnte Gandhi nicht grundsätzlich ab. Er wollte jedoch die Gleichberechtigung der Kasten herbeiführen und die Kastenlosen befreien. Laut Galtung (1987) schätzte er die Zuordnung der Menschen in eine Berufsgruppe, die von Geburt an Sicherheit biete, ihnen die Berufswahl erspare und ihre Kräfte auf sittliches und gerechtes Handeln in der Gesellschaft lenke.[96]

Die Inszenierung als religiöse Figur

Religion – darunter verstand er jeden religiösen Ausdruck – und Politik trennte Gandhi nicht. Er lehnte es ab, als Heiliger oder Politiker bezeichnet zu werden, betonte aber den sowohl religiösen wie auch politischen Charakter aller seiner Kampagnen.[97] Wahrheit bedeutete für Gandhi das Gleiche wie Gott, und diese immerwährende individuelle unbeugsame Suche nach Wahrheit bzw. Gott, die auf die Menschheit positiv einwirkt, hielt er für ein menschliches Grundbedürfnis, welches über der Geschichte steht.[98]

Der Indische Nationalkongress zeichnete seit den 1920er Jahren für die einfachen Bauern ein Bild von Gandhi, das ihn als eine Art Messias zeigte, eine Strategie, die diese Bauern mit der Widerstandsbewegung verbinden sollte. In tausenden von Dörfern wurden Theaterstücke aufgeführt, die Gandhi als Reinkarnation früherer indischer nationaler Führer oder sogar als Halbgott darstellten. Diese von der Kongresspartei finanzierten religiösen Historienspiele und Zeremonien führten zur Unterstützung des INC durch Bauern, die tief in der alten hinduistischen Kultur verwurzelt und des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Ähnliche messianische Anklänge gab es in volkstümlichen Liedern und Gedichten. Gandhi wurde dadurch nicht nur zum Volkshelden, sondern der gesamte INC bekam in den Dörfern oft einen sakralen Anstrich.[99] Diese Idealisierung Gandhis durch den INC hatte nach Auffassung von Gita Dharampal-Frick auch die Funktion, von seinen konkreten umstürzlerischen sozialen „Experimenten“ abzulenken, denn ein Großteil der indischen Elite lehnte Gandhis indisches „Alternativmodell“ ab und strebte eine Modernisierung durch Weiterentwicklung der vorhandenen politischen Strukturen nach der Unabhängigkeit an.[100]

Forderung nach sofortiger Unabhängigkeit

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Gandhi (vierte Person von links) und Sadar Patel (rechts neben ihm) während der Bardoli-Satyagraha

Die Jahre 1928 und 1929 waren bestimmt von Gewalttätigkeiten seitens radikaler Nationalisten. Unter der Führung des nunmehr marxistisch ausgerichteten Nehru forderten die Mitglieder des INC die sofortige vollständige Unabhängigkeit, die notfalls auch mit Gewalt erreicht werden sollte. Gandhi führte einen Steuerstreik auf dem Lande, den er Jahre zuvor begonnen hatte, mit Hilfe von Sadar Patel erfolgreich zu Ende. Es kam wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf im Parlament von Neu-Delhi zwei Bomben gezündet wurden. Der INC forderte nunmehr die Unabhängigkeit innerhalb eines Jahres. Als die Briten sich weigerten, forderte er diese mit sofortiger Wirkung.

Gandhi sollte den gewaltlosen Widerstand leiten, zog sich allerdings zunächst für einige Wochen zur Meditation zurück, bevor er dem britischen Vizekönig brieflich Verhandlungen vorschlug oder bei Weigerung mit weiteren Satyagraha-Aktionen drohte. Er kündigte Maßnahmen gegen die ungerechte Salzsteuer an.[101] Zunächst bestimmte er den 26. Januar 1930 zum „Unabhängigkeitstag“, ein Nationalfeiertag, der noch heute als „Tag der Republik“ begangen wird. Außerdem legte er den Briten ein 11-Punkte-Programm vor, das wirtschaftliche und politische Forderungen enthielt, u. a. diejenigen nach Abwertung der Rupie, Halbierung des Militärhaushalts, der Grundsteuer und der Beamtenbezüge, Schutzzöllen auf importierte Textilien sowie Streichung der Salzsteuer.[102]

Der Salzmarsch

Anfang März 1930 veranlasste Gandhi – er hatte keine Antwort auf seinen Brief erhalten – eine Kampagne des zivilen Ungehorsams und rief zum Salzmarsch gegen das britische Salzmonopol auf. Der 388 km lange Salzmarsch von Ahmedabad nach Dandi in Gujarat dauerte vom 12. März bis zum 6. April. Dieser Marsch, auch als Salz-Satyagraha bezeichnet, war die spektakulärste Kampagne, die Gandhi während seines Kampfes um Unabhängigkeit initiierte. Er war ein Protest gegen die englischen Steuern auf Salz. Indische Bürger durften weder Salz herstellen noch es selber verkaufen.

Der Aufruf zur Steuerverweigerung wirkte auf die indischen Massen wie ein Aufbruchsignal. Weite Teile der Bevölkerung, die sich bisher nicht an Gandhis „Wahrheitssuche“ beteiligt hatten, wurden durch diese auf schnellen Erfolg ausgerichtete Aktion des hochangesehenen verehrten Gandhi und seiner Mitstreiter motiviert, sich der Bewegung anzuschließen.[103] Als die Menschen begannen, massenweise Salz zu gewinnen, ohne die Steuer zu zahlen, wurden 60.000 Personen inhaftiert, darunter Gandhi und die meisten Kongressmitglieder.

Es gab ein weltweites Medienecho zugunsten des indischen Freiheitskampfes. Im Februar 1931 gab die Kolonialverwaltung nach. Der Vizekönig Lord Irwin führte Verhandlungen mit Gandhi, bis das Irwin-Gandhi-Abkommen geschlossen wurde. Die Salzproduktion für den persönlichen Bedarf ging in indische Hand über und die politischen Gefangenen wurden freigelassen.[104]

Begegnungen in Großbritannien

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Gandhi mit Textilarbeiterinnen in Darwen, Lancashire, 26. September 1931

An der ersten Round-Table-Konferenz zur indischen Frage nahm die Kongresspartei nicht teil. Ohne Gandhi blieb die Konferenz in London wirkungslos.[105] Am 17. Februar 1931 kam es zu einem Treffen mit Lord Irwin, dem Vizekönig von Indien. Nach zweiwöchigen Verhandlungen wurde der Gandhi-Irwin-Pakt bekannt gegeben. Neben einer Freilassung aller Gefangenen für die Zusage Gandhis, den zivilen U
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