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Diverses:Cirque Rouge

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Wien ist sicherlich keine Stadt, die niemals schläft
Simon Kogitor warf einen letzten Blick auf seine silberne Taschenuhr chinesischer Fabrikation, dann ließ er sie in der Seitentasche seines Gilets verschwinden, setzte den schweren, schwarzen Filzhut auf und verließ seine kleine Wohnung im ersten Wiener Gemeindebezirk, um hinaus in die kalte Winternacht zu treten. Das dumpfe Knarren der ins Schloss fallenden Tür mischte sich unter das Geläut, welches über den leeren Judenplatz hallte und von der nahen Kirche am Hof ausging. Der Philosoph kannte diesen Klang nur zu gut, wurde er doch in regelmäßigen Abständen durch ihn aus dem Schlaf gerissen.

Die Glocken schlugen elf Uhr nachts und es waren nur noch wenige auf den Straßen, die sie hätten hören können. Die meisten hatten sich schon nach Hause begeben, versuchten mit heißer Schokolade und warmen Decken die Kälte jener Tage aus ihren Gliedern zu vertreiben und normalerweise wäre Simon Kogitor auch einer dieser Menschen, würde um elf Uhr nachts in seinem warmen Bett liegen und sich Gedanken darüber machen, was es morgen zum Frühstück gäbe - zusätzlich zu der notwendigen Tasse Earl Grey und den obligatorischen Drohungen Nordkoreas gegen Gott und die Welt - doch heute gastierte der Cirque Rouge im Volkstheater.

Kogitors Weg führte ihn an den Häusern der Seitzergasse vorbei, deren barocke Fassaden im gelblichen Licht der Straßenbeleuchtung schwach schimmerten, durchquerte die prunkvollen Gebäude der Hofburg, die daran erinnerten, dass Österreich einmal weltpolitische Bedeutung hatte, und verlief entlang der Museen, die nicht nur ein Meisterwerk historistischer Baukunst darstellten, sondern als Teil des nie realisierten Kaiserforums gemahnten, dass Kaiser Franz Josef seine finanziellen Möglichkeiten radikal überschätzt hatte.

Am Ende dieses Weges stand das Volkstheater; ein historischer Bau, dessen unförmige Kuppel mit Fug und Recht als architektonisches Krebsgeschwür bezeichnet werden durfte. Doch nichts wies den flüchtigen Passanten darauf hin, welch außergewöhnliche Dinge sich in seinem Inneren abspielten, nur eine offene Tür offenbarte dem Kundigen den Eingang, wobei auch manch Kundiger einige Augenblicke ratlos vor der Fassade stand, ehe er fand, wonach er suchte.

So erging es unter anderem einem älteren Herren mit grauem Fedora und schwarzem Mantel. Er versuchte mehrmals das Gebäude durch den Seiteneingang zu betreten und nahm bei seinen letzten Versuchen sogar seinen rechten Fuß zur Hilfe, ehe ein weiterer Gast ihn auf seinen Irrtum hinweisen konnte.

Simon Kogitor verharrte einige Augenblicke an der Kreuzung, sog die kühle Nachtluft in die Lungen, dann überquerte er die Straße und betrat das Gebäude. Das Kartenfoyer war ein runder, in weiß gehaltener Raum, der für die übliche Masse an Theaterbesuchern viel zu klein war, sodass man nicht immer sagen konnte, wer noch auf seine Karte und wer schon auf den Einlass wartete. Vergoldete Stuckelemente verzierten die gewölbte Decke. Durch eine große Flügeltür gelangte man in den Zuschauerraum, der an diesem Abend jedoch nicht betreten werden durfte. Das Spektakel fand in den Pausenräumen statt.

Eine Treppe, an deren Beginn zwei Frauen an einem kleinen Rundtisch saßen, führte zur roten Bar. Kogitor öffnete seinen Mantel, holte die Eintrittskarte aus dem Sakko und zeigte sie den Damen. Diese entwerteten sie und stempelten danach die linke Hand des Philosophen ab, die dieser wie ein Stück lebloses Schnitzelfleisch auf den Tisch gelegt hatte.

Veronique soll für ein volles Haus und für volle Kassen sorgen
Er hasste diese Procedur, erinnerte sie doch mehr an Kühe und deren Brandmarkung als an den soziokulturellen Habitus gebildeter Menschen. Für ihn war dieser Stempel nur die Zollgebühr, die er zu entrichten hatte, um dieses wunderliche Reich des nostalgischen Escapismus betreten zu dürfen. Kaum hatte Simon Kogitor die ersten Stufen hinter sich gebracht, drang Musik an sein Ohr. Peggy Lee sang den Song "Fever".

Nahezu unwillkürlich begann er mit den Fingern der rechten Hand zu schnippen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Euphorie nahm von ihm Besitz und als der Philosoph das Ende der Treppe erreichte, war es für ihn als wäre er nicht mehr in einem Wiener Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern in einem New Yorker Jazz Club im Jahre 1940. Er wusste, dass es sich nur um eine Illusion, um eine Imitation handelte, aber die Atmosphäre, das Umfeld reichte aus, um seine intuitive Erwartungshaltung so zu manipulieren, dass der Verstand zum Spielverderber wurde, denn dieser glaubte, auf der Unmöglichkeit der Täuschung beharren zu müssen. Simon Kogitor gab Mantel und Hut an der Garderobe ab, dann betrat er die rote Bar und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

Er versuchte alle Eindrücke zu absorbieren, sie aufzusaugen und sich zu eigen zu machen: Die rote Wandtapete, die Dekorationselemente aus vergoldetem Stuck und das Wandgemälde oberhalb des Eingangs. All das wollte er sich bewusst machen, wollte er nicht nur sehen, sondern auch erleben.

Doch das eigentliche Interesse des Philosophen galt den anderen Gästen. Die Damen flanierten in ihren stolzen Roben die Haare zu kunstvollen Frisuren geformt als suchten sie nicht nur die Eleganz einer vergangenen Epoche zu erreichen, sondern diese sogar noch zu übertreffen und die Herren, die ihre Fliegen und ihre Hosenträger stolz zur Schau stellten, standen ihnen um nichts nach.

Dass die Wahl der Kleidungsstücke nicht immer der Mode der angestrebten Epoche entsprach, spielte keine Rolle, sondern zeigte vielmehr, dass es nicht um Imitation, sondern um den Spaß an der Illusion ging. Wie kleine Kinder hatten sie sich verkleidet und spielten nun die Rollen, die sie schon immer spielen wollten, wobei niemand so töricht gewesen wäre, diesem Trugbild auch nur einen Augenblick lang Glauben zu schenken. Sie waren alle Darsteller dieser hedonistischen Posse.

Derartige Gedanken schossen Simon Kogitor durch den Kopf und er konnte sich nur schwer ihrer erwehren, war die Philosophie doch eine seiner Leidenschaften. Um eine weitere Leidenschaft zu befriedigen - nämlich die für guten Whisky - begab er sich zum Tresen und orderte ein Glas 12 Jahre alten Macallan, nur um gesagt zu bekommen, dass der Barkeeper diesen Whisky nicht habe. Der Philosoph stimmte dem Alternativvorschlag Jameson zu. Seine Stimme konnte jedoch die leichte Enttäuschung und den unterschwelligen Zorn, die für Desillusionierung unerfüllter Wünsche symptomatisch sind, nicht zur Gänze verbergen.

Der Barkeeper nickte entschuldigend, nahm eine grüne Glasflasche aus dem schwarzen Plastikregal, das sich hinter ihm befand, und goss den Whisky in ein niedriges Glas, dessen schlichte Form es vermutlich für zahlreiche Verwendungszwecke prädestinierten, der Konsum von Spirituosen war aber sicherlich keiner davon. Die Flasche wanderte zurück ins Regal und das Glas über den Tresen. Der Barkeeper entschuldigte sich:

„Es ist etwas mehr geworden, aber das sollte kein Problem für Sie sein."

„Für mich sicher nicht, aber meine Leber würde vermutlich anders antworten,“

Rote Tape, roter Vorhang, rote Sessel, qua causa rote Bar
entgegnete der Philosoph schmunzelnd und ergänzte in Gedanken, nachdem er das Glas an die Lippen geführt und etwas Whisky seine Zunge benetzt hatte, dass ihm nicht nur seine Leber sondern auch sein Geschmackssinn den Konsum dieses Whiskys übelnehmen würde.

Simon Kogitor setzte sich in einen schweren Stoffsessel, der am Rande des Raumes unterhalb eines großen Fensters stand. Während seine Finger über den roten Samt des Möbelstückes glitten, betrachtete er die anderen Gäste.

Sie tanzten, tratschten, amüsierten sich. Ihr Gelächter mischte sich ebenso wie das Klacken ihrer Schuhe unter die Musik und wurde zum akustischen Hintergrund für diese nostalgische Illusion, die ein Stück heiler Welt vorgaukelte. Immer wieder trafen neue Besucher ein. Sie stiegen in ihren kunstvollen Verkleidungen die Treppe nach oben, bereit eine glamouröse Scheinwelt zu betreten.

Es waren Freunde oder Paare, die gemeinsam dem Escapismus frönten, die sich photographierten, die tanzten, lachten und für einen Moment versuchten ihre Sorgen zu vergessen. Nur der Philosoph saß alleine im Sessel. Seine einzige Begleitung war der Whisky und immer wenn dieser seine Zunge benetzte, wurde er daran erinnert, dass er sich damit in schlechter Gesellschaft befand.

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, beobachtete die Gäste, suchte nach Personen, die ebenfalls alleine waren, doch überall wohin er blickte, sah er nur Gemeinschaft. Aber selbst als er durch die Menge hindurch eine junge Frau mit schwarz gelocktem Haar und rotem Abendkleid erspähte, die ohne Begleitung an der Bar stand, blieb er sitzen, verließ seinen Beobachterposten nicht.

Simon Kogitor tat dies nicht aus Schüchternheit oder weil er nicht wusste, worüber er hätte reden sollen - ein für einen Philosophen nicht imaginierbares Problem, außerdem war Nordkorea immer ein dankbares Gesprächsthema - sondern weil es sich beim Cirque Rouge auch um eine Tanzveranstaltung handelte, er aber nicht tanzen konnte.

Diesen Makel pflegte er meist zu verteidigen, indem er seine außergewöhnliche Kenntnis auf dem Gebiet der abendländischen Metaphysik ins Feld führte und so tat als würde dieses Wissen seine Unzulänglichkeit im Bereich rhytmischer Bewegung kompensieren. Dieser theoretische Ansatz ließ jedoch vollkommen die Tatsache außer Acht, dass die meisten Damen lieber tanzten als über Metaphysik zu diskutieren, weshalb Simon Kogitor nun alleine mit grimmiger Miene im roten Samtsessel saß und hilflos mitansehen wusste, wie die Illusion begann in sich zusammenzufallen.

Es war der Fluch seiner Arbeit, die ständige Selbstreflexion erforderte, dass er nicht einfach nur Dinge sah, sondern auch die dahinter liegende Metaebene. Für ihn war ein Mohr im Hemd nicht einfach nur eine deliziöse Mehlspeise, sondern aufgrund des Namens auch ein ethisches Dilemma; die Oper nicht nur schönste Musik, sondern auch ästhetisches Phänomen; der schrullige Nachbar nicht nur ein Verrückter, sondern auch anthropologisches Rätsel.

Dieser notorische Zwang zur Reflexion begann nun auch die Illusionen des Cirque Rouge zu hinterfragen, drängte, dass der Philosoph sich nicht mehr mit dem Wie, sondern mit dem Warum beschäftige. Simon Kogitor blieb nur zu hoffen, dass die Showeinlagen ihn von diesem Joch befreien würden.

Es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Die Menschen strömten in die rote Bar, drängten zur Bühne, drückten und quetschten um einen guten Platz zu erhaschen. Manche versuchten ihr Glück am Tresen, zwängten sich in Lücken, wedelten mit Geldscheinen, um die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu bekommen.

Spannung lag in der Luft. Ein Hauch von Sensation manifestierte sich im Raum. Ungeduld machte sich breit. Zum ersten Mal an diesem Abend wurde der Cirque Rouge seinem Namen gerecht, wie in der Manege erwartete man sich einen Reigen der Attraktionen, eine Kumulation des Atemberaubenden. Das Publikum gierte nach Spektakel.

Mademoiselle Marie heizt dem Publikum ein
Der Vorhang öffnete sich, die Menge johlte und die zierliche Animierdame, die ein schlichtes, schwarzes Kleid trug, kündigte die großartige, die fabelhafte, die exzeptionelle Mademoiselle Marie an, dann betrat die Tänzerin die Bühne und begann wie in Trance ihren Körper zur Musik zu bewegen.

Pailletten schimmerten im Licht des Scheinwerfers. Glitter schwebte im Raum. Dünner Seidenstoff glitt durch Luft. Spätestens als der Champagner spritze und der Büstenhalter fiel, war Simon Kogitor wieder im Bann der Illusion, hatte er sich seines Zwanges zur Reflexion entledigt und war wie jeder andere Gast zum Maulaffen mutiert.

Die Musik verstummte und Mademoiselle Marie verließ unter dem Jubel der Menge die Bühne. Ihr folgte Lady Lily, die wiederum von Fräulein Franziska abgelöst wurde, deren Nachfolge Signorina Sofia antrat. Der Philosoph ließ sich von den Tänzen verzaubern, ließ sich durch die Bewegungen bezirzen, unbedeutend ob es sich um die galanten Gesten der Mademoiselle Marie oder die famosen Verrenkungen des Fräuleins Franziska handelte. Ihre reizvollen Regungen raubten ihm den Verstand, ermöglichten es ihm sie gänzlich wahrzunehmen, ohne darüber reflektieren zu müssen.

Achtzig Minuten nachdem das Primglöcklein im Südturm des Wiener Stephansdoms den neuen Tag eingeläutet hatte, trat Signorina Sofia unter dem Jubel des Publikums ab und die Animierdame beschritt die Bühne, um den Star des Abends - die hinreißende, sirenenhafte, zauberische Veronique - anzukündigen.

Ihr pechschwarzes, lockiges Haar lugte unter der Federkrone hervor, die sie trug. Eine venezianische Maske bedeckte die obere Hälfte ihres Gesichts, sodass nur ihre mandelbraunen Augen zu erkennen waren. Ihre Brüste drückten gegen den roten Büstenhalter. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sodass ihre weißen Zähne aufblitzten, als sie begann zur Musik der Arie Habanera aus Bizets Oper Carmen zu tanzen. Simon Kogitor war fasziniert von ihrer Schönheit, folgte ihren Bewegungen mit seinen Blicken, wagte gar nicht zu blinzeln, da er Sorgen hatte etwas könnte seiner Aufmerksamkeit entgehen. Mit Ergriffenheit betrachtete er wie Veronique sich ihres Büstenhalters entledigte, kokett zwinkerte und dann ihren Slip auszog. Sie warf einen letzten Luftkuss ins Publikum, dann verstummte die Musik und der Vorhang schloss sich.

Ein letzter Blick zurück
Die Menge johlte und grölte. Doch nach kurzer Zeit verstummte der Lärm. Die Menschen begannen wieder zu tanzen, zu tratschen und sich zu amüsieren. Ihr Gelächter mischte sich ebenso wie das Klacken ihrer Schuhe unter die Musik und wurde wieder zum akustischen Hintergrund für diese nostalgische Illusion. Nur Simon Kogitor starrte noch einige Augenblicke lang auf die Bühne, dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, betrachtete die anderen Gäste.

Er zeigte sich beeindruckt von der Macht der Illusion, vom Reiz des Trugbildes, von der Magie der Utopie, doch dadurch betrachtete er den Cirque Rouge aus der Metaebene, machte aus ihm ein soziophilosophisches Phänomen. Er war nicht mehr Darsteller dieser hedonistischen Posse.

Der Philosoph holte Hut und Mantel von der Garderobe, schritt die Treppe hinab zum Ausgang, wo er den Hut aufsetzte und den Mantel anzog. Dann verließ er das Theater, zündete seine Zigarre an und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Es war zwei Uhr nachts. Daher bestand also noch genügend Zeit ein ihm bekanntes Refugium zu besuchen, nämlich die Bar, wo er bei Cool Jazz und kühlen Cocktails im braunen Ledersessel sitzen und über das soziophilosophische Phänomen des Cirque Rouge reflektieren konnte. Simon Kogitor richtete die Krempe seines Hutes, zog an seiner Zigarre, dann ging er los.

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Dieser Artikel aus den Namensräumen „Diverses“ oder auch „Spiegelwelten“ besitzt aufgrund seiner Qualität die Urkunde „Schatzkistentauglich“ und wird daher im Portal Rumpelkiste gelistet.
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