Sub:Im Garten der Geister2

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Patrizia

Patrizia von Petrechin

Langsam näherte ich mich den beiden. Sie drehte den Kopf und sah mich an. Das war der entscheidende Augenblick!
Was sich jetzt in ihren Augen spiegelte, würde die Beziehung zwischen ihr und mir auf alle Zeit festlegen. Ein Kloß von der Größe eines Medizinballs klemmte in meiner Kehle. Sie lächelte, senkte kurz den Blick und machte einen Knicks.

In Ihrer Gestik und Mimik war nichts unterwürfiges, aber auch nichts überhebliches. Der Präsident beobachtete sie lächelnd, dann winkte er mich näher heran und stellte mich ihr vor. Schließlich wandte er sich mir zu:
"Darf ich Dir Freifrau Patrizia von Petrechin vorstellen? Sie ist aus Verdun herangereist um mit uns das neue Jahrhundert zu begrüssen."

"Sie wohnen in Verdun?" Meine Frage war so dämlich, dass es mir in den Zehennägeln weh tat, aber mir war schlicht nichts besseres eingefallen.
"Ja" antwortete Patrizia von Petrechin. Seit etwa 12 Jahren."
"Ihr gehört ein großes Gut auf der Kalten Erde" ergänzte der Präsident.
"Die Kalte Erde? Dort wo noch jede Menge Skelette rumliegen?" Abermals war mein Beitrag zur Konversation von erbärmlicher Einfalt.
"Ich habe mit der Zeit gelernt, mit den Toten zu leben. Man muss auf der kalten Erde den Dingen ihren Lauf lassen. Es ist der Garten der Geister und ich bin dort nur Gast."
Wenn mir doch nur endlich etwas intelligentes eingefallen wäre!
Etwas tiefgründiges, in der Art von: wir sind alle nur Gäste, oder: wir sind alle nur Geister oder: Geister sind alles nur Gäste... Gäste sind wie Geister - jedoch nichts davon war brauchbar, sondern einfach nur idiotisch.

Ein peinliches Frühwerk

Patrizia schien meine Qual wahrzunehmen und mich bewusst daraus erlösen zu wollen, in dem sie das Thema wechselte:
"Haben Sie das gemalt?"
"Ja, aber es ist sehr alt. Ich bin heute schon etwas besser".
Wahrlich: das Bild, auf das sie gezeigt hatte, war ein Porträt des Präsidenten aus meiner Frühzeit. Ginge es nach mir, wäre das dilettantische Gekrizzel längst entsorgt worden. Der Präsident höchstpersönlich hatte es aber behalten wollen.
"Ihre Bilder sind schön und der Präsident ist schön. Sie passen gut zusammen!" sagte sie.

Das war so ziemlich das netteste, was je jemand zu mir gesagt hatte. Ich stotterte ein verschlucktes Danke.

Fünf vor Zwölf

"Es ist bald soweit! Nur noch fünf Minuten" brüllte eine nicht mehr ganz nüchterne Männerstimme aus der Saalmitte. Und wirklich! Die Uhr zeigte fünf vor Zwölf.

Der Präsident öffnete die Balkontür. Ein Schwall eisiger Luft empfing uns. Fröstelnd gingen wir nach draußen. Gefrorener Schnee knirschte unter meinen Füssen. Bis auf vereinzelte Böller, die ein paar Idioten wie jedes Jahr zu früh knallen liessen, war es still.
Dann fingen die Glocken der Sankt Potemkin Kathedrale an zu läuten, um das alte Jahrhundert zu verabschieden. Ich kuschelte mich dicht an den Präsidenten. Es war ein wundervoller, feierlicher Augenblick und ich genoss ihn, obschon ich wusste, dass ich der Kälte wegen später wohl dauernd zum Klo unterwegs sein würde. Und das die ganze Nacht lang.

Mitternacht!

Nun verstummten die Glocken. Bald würden sie mit den zwölf Mitternachtschlägen beginnen.
"Wie wohl die Gebrüder Dutzendzwölf Sylvester feiern?" witzelte der Präsident.
Jetzt endlich erklangen die schweren, dumpfen Schläge der großen Glocke. Nach dem 6 Schlag zählten alle mit: "...7...8...9...10..11..ZWÖLF!"

PROST!

Die Glocken läuteten nun das neue Jahrhundert ein.
Wir stürzten den Champagner hinunter. "Auf das Neunzehnte Jahrhundert!"
Der Präsident schleuderte sein Glas kräftig gegen eine der Säulen wo es zerbarst. Die anderen Gäste taten es ihm gleich. Ein Klirr- und Scherbenkonzert erklang.
Dann erleuchtete das pompöse Feuerwerk den Nachtschwarzen Himmel. Luftschlangen wurden vom Balkon geworfen. Lachend gingen die ersten Gäste wieder hinein. König Gayden liess eine Tischbombe hochgehen, deren Inhalt - bunte Kondome mit Micky Maus Gesichtern - den Damen in auf die Frisuren flog und dort hängen blieb.

In der Stille der Nacht

Der Präsident widmet sich seinen Gästen

Die Kapelle spielte einen beschwingten Walzer auf. Der Präsident und die First Lady eröffneten den Ball, andere Paare zogen mit.
Ich schlug die Einladung des legoländischen Aussenministers mit ihm zu tanzen aus und huschte unbesehen noch einmal nach draußen, auf den Balkon.

Das große Feuerwerk war vorbei. Den Knallfroschwerfenden Volldeppen auf der Straße war entweder die Munition ausgegangen oder sie lagen als Schnapsleichen am Straßenrand. Jedenfalls war nichts mehr zu hören.

"Wollen Sie nicht reingehen? Es ist sehr kalt"
Ich hatte Patrizia von Petrechin gar nicht gesehen. Sie stand im Schatten einer der Säulen.
"Es geht" antwortete ich.
"Sie sollten tanzen gehen! Ich glaube, einige der Herren suchen Sie schon."
"Später. Ich bin in Sylvesternächten gerne draußen, besonders nach Mitternacht."
"Nun, es ist alles noch so friedlich, nicht wahr?"
"Richtig, noch. Wissen Sie, ich glaube, das ist das Besondere an dieser Nacht. Hundert Jahre liegen in der Dunkelheit vor uns da, unberührt vom Schmerz der Welt. Es ist wie die Sichtung eines fernen Ufers im Nebel. In keiner Karte ist es verzeichnet und alles scheint dort möglich."
Patrizia senkte den Kopf.
"Und doch werden sie kommen; die Tragödien, die Kriege und die Katastrophen. Die großen wie die stillen."
"Ja, gewiss. Aber möchte man in diesen Minuten nicht meinen, dass sie abwendbar sind? Hinter uns liegt das vergangene Jahrhundert - bis obenhin mit Blut getränkt. Leidgesättigt wie ein gefrässiger, alter Marder. Wir haben es in der Hand, es JETZT besser zu machen."
"Schön, wenn man daran glauben kann."
"Ich habe ja nicht gesagt, dass ich daran glaube. Nur dass es in dieser Nacht den Anschein hat. Ich genieße die Illusion. Was haben wir den sonst?"
"Wir alle brauchen Hoffnung, das ist wahr."

Erinnerungen

"Was hat Sie eigentlich nach Verdun verschlagen?" fragte ich Patrizia.

"Das Achtzehnte Jahrhundert war auch mit mir nicht gerade nett" antwortete sie. "Ich stamme aus Ostpreussen. Mein Mann war Offizier bei der deutschen Kavallerie. Er ist im Krieg gefallen. Als die feindlichen Truppen näher rückten habe ich gepackt was in einen Planwagen passte und mich einem Flüchtlingstreck angeschlossen. Die wenigen Pferde und das Vieh, das mir die Wehrmacht nicht wegrequiriert hat, habe ich mitgenommen. Dann sind wir einer SS-Patrouille begegnet, deren Auto im Schnee verreckt war. Sie hielten uns an und verlangten, dass ich ihnen meine Pferde überlasse, damit sie auf ihnen fliehen konnten."
"Haben Sie sie ihnen gegeben?" fragte ich.

"Ich dachte ja gar nicht daran. Es waren meine letzten zwei Tiere und zogen meinen Wagen. Ich sagte ihnen, sie könnten sich dem Treck zu Fuß anschließen. Aber davon wollten die hohen Herren natürlich gleich gar nichts wissen. Sie bestanden auf die Pferde."

Aus dunkler Zeit

"Und dann?" ermunterte ich Patrizia weiter zu erzählen. Ihr Blick war düster geworden.
"Dann habe ich die Luger meines Mannes genommen die ich unter dem Poncho trug und habe beide erschossen."
"Sie haben diese SS-Männer erschossen? Einfach so?"
"Über den Haufen geknallt, ohne mit der Wimper zu zucken!"
"Oh, das ist...hart. Ich nehme an, sie taten es aus Angst"
"Es waren die letzten Tage des Krieges. Jeder war sich selbst der nächste und jeder kämpfte gegen jeden. Diese Scheißkerle hätten nicht aufgeben. Sie wollten mir die Pferde nehmen und ich konnte in der Schneewüste zu Grunde gehen. Glauben Sie mir, auch Sie hätten so gehandelt. Sie und der Präsident und ein jeder hier im Palast. "
"Patrizia, Sie brauchen sich vor mir nicht zu rechtfertigen. ich verurteile Sie doch nicht. Wie haben denn die anderen Leute auf dem Treck reagiert?"

"Einige schlugen vor, dass wir einfach weiterziehen. Aber da waren auch ein paar dabei, vernagelte Quadratschädel, denen das Parteiabzeichen immer noch wichtiger war als die eigene Frau oder die Kinder. Die haben dann laut 'Mörderin' geschrien. Sie haben so lange geschrien und gewettert, bis die Stimmung kippte und sogar die Weiber damit begannen, ein kräftiges Seil zu suchen."

"Was ist dann passiert?"
"Ich bin geflohen. Ich habe die Pferde ausgespannt und bin alleine weitergeritten. Ich bin geritten und geritten, bis ich schließlich in Hamburg angekommen bin. Dort...Aber wir sollten jetzt wirklich wieder rein gehen. Wir werden hier sonst noch erfrieren."

Wie hätte ich jemandem widersprechen können, der sich auf einem Flüchtlingstreck durch Eis und Winter gekämpft hatte? Also gingen wir zurück in den Ballsaal.


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