Stupidedia:Adventskalender 2016/3

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Der Mann vom Notdienst feiert Weihnachten

Ich repariere Tankstellen. Ob Elektrik, ob Bleche, ob Keller, ob Dach - was kaputt ist, ist meine Aufgabe. Ich mache es gerne und ich weiß, dass verhältnismäßig wenig Menschen dasselbe tun. Und so fahre ich quer durch mein Gebiet. Tagein, tagaus.

Heute ist Heiligabend. Normalerweise ein Tag, der mit der Familie am Tisch vor einem Baum sitzend verbracht wird. Für mich ist das eine Utopie. Da die meisten Tankstellen auch über Weihnachten geöffnet haben, um zu erhöhten Preisen die Feiertagsheimfahrer abzupressen, sitze ich am Morgen dieses 24.12.2016 im Firmenwagen und warte darauf, dass das Telefon klingelt. Einfach weil ich weiß, dass es sowieso passieren wird. Natürlich hat mein Chef mir gesagt, dass heute nur das Nötigste weitergeleitet wird. Er selber sitzt daheim am Tisch und wird dort höchstpersönlich auf die Weiterleitungstaste drücken. Natürlich bin ich zuversichtlich, dass man mich nur mit wirklichen Notfällen belästigt. Schließlich wollen wir alle zur Bescherung bei unseren Lieben sein.

Es ist 8:15, als das Unvermeidliche passiert. Ein Preismast in Neuss stellt nicht um, ich muss also los. Gut, am frühen Morgen kann man damit leben. Der Tag ist lang und wenn man ehrlich ist, möchte man Heiligabende vor dem Essen auch gar nicht daheim erleben. Schließlich hat meine Schwiegermutter angekündigt, extra ein paar Stunden früher zu kommen, um meiner Frau bei den Vorbereitungen zu "helfen". Die hat daraufhin vor Freude ein Loch in den Wohnzimmertisch geschlagen. Das werde ich dann morgen reparieren dürfen.

Neuss, 9:30

Sieht normal aus. Ist schließlich Weihnachten

Die Autobahnen sind an diesem Morgen relativ frei. Ein Vorteil. Jetzt noch im Stau stehen wäre nichts, worauf ich spontan Lust hätte. Letztes Jahr habe ich Heiligabend in einer Vollsperrung auf der A1 verbracht, nachdem ein paar LKW die Remscheider Berge ohne Winterreifen hochrollen wollten und sich quergestellt hatten. Damals hab ich als Geschenk eine Kanne Kaffee vom ADAC bekommen. Fand ich besser als die Handyhülle, die meine Frau mir am nächsten Tag überreichte.

In Neuss angekommen fällt mein Blick sofort auf den Preismast. Dieser steht parallel zum Shop in einem Grünstreifen herum und verhält sich betont unauffällig. Sogar so unaufällig, dass die Preise stimmen. Ich vergleiche die Preise mit denen auf den Säulen. Letztere sind gesetzlich bindend und stimmen in jedem Fall - Der Preismast hingegen ist nur eine große Werbetafel. Er kann lügen, auch wenn er es nicht sollte. Tut der Kandidat hier aber interessanterweise gar nicht. Alles in Ordnung.

Ich bin verwirrt. Vielleicht kann die Kassiererin ja Licht ins Dunkel bringen.

"Firma Piepmaz. Sie haben den Preismast gemeldet?"

"Ja. Der zeigt falsche Preise an."

"Nein, zeigt er nicht."

"Doch. Zeigt er."

"Nein. Ich komme doch gerade von draußen. Da sieht man es doch."

"Aber ein Kunde vorhin hat gesagt..."

"Es stimmt aber alles."

"Ja, ich sehe den Preismast von hier ja nicht, woher soll ich das wissen?"

"Rausgehen und Nachsehen?"

Ich ernte einen Blick, der mir zu verstehen gibt, dass ich sie genau so gut darum hätte bitten können, eine NASA-Rakete zu chartern und bis Silvester den ersten befrauten Flug zum Uranus durchzuführen. Ich zucke mit den Schultern, mache ein paar Beweisfotos vom Preismast und mich anschließend auf den Heimweg. Es ist jetzt 10:15. Ich wäre gegen 11:30 daheim. Immer noch früh genug, um die Schnitzel mit meinem Namen zu versehen, bevor mein Schwiegervater sie mir heute Abend wieder vor der Nase wegschnappt. Eine halbe Stunde Fahrt später muss ich kurz vor dem Kreuz Kamp-Lintfort umdrehen. Notfallmeldung. Aus Aachen. Mist.

Aachen, 12:15

Es herrschten mittlerweile die perfekten Temperaturen, um zu arbeiten.

Es ist kalt heute. Bei klarem Himmel waren es in der Nacht bisweilen unter -5 Grad. Einige Weihnachtsgänse fielen tiefgekühlt vom Himmel, sodass Spätentschlossene sich doch noch über einen unverhofften Weihnachtsbraten freuen konnten. Ich bekam auch langsam Hunger, konnte mir aber jetzt bereits sicher sein, dass ich nicht rechtzeitig zum Essen daheim sein werde. Punkt 1 des Festtagsprogramms war für mich nun also erledigt.

In der ländlichen Region vor Aachen war es noch kälter als daheim. Es hatte sogar ein wenig geschneit, was mich extremst freute. Ich fuhr auf Sommerreifen, da ich sämtliche Termine für mögliche Reifenwechsel, beginnend ab September (vor 4 Jahren) auf Grund spontaner Aufträge verpasst hatte. Arbeitsalltag halt. Glücklicherweise hatte ich zur Überbrückung dieser Probleme einen nächtlichen VHS-Kurs zur Ausbildung als Rallye-Pilot absolviert. Also schaffte ich es, den Wagen per Powerslide auf die vereiste Anlage am Rande der alten Kaiserstadt zu kreiseln.

Es bot sich ein Bild des Grauens. Der Mast - Rollenbandtechnik aus einer Zeit, in der die Kelly Family noch gesellschaftliche Relevanz besaß - war ein einziger Eiszapfen. Hier bewegte sich gar nichts mehr. Ein altes Problem bei Rollenbandziffern. Diese Dinger machten eigentlich nie Probleme. Sie waren genügsam und kamen mit allen Umständen klar. Außer Kälte... Und Hitze... Und Feuchtigkeit... Und Trockenheit... Und Verschmutzung... Und anderen Dingen... Einigen... Nun ja.

"Hohoho. Von drauß' vom Preismast komm ich her. Ich muss euch sagen, da geht wohl nichts mehr.", begrüßte ich den Pächter, den ich schon einige Jahre kannte. "Hier drin im Shop, da bleib ich steh'n, doch sollte er wohl besser geh'n.", antwortete er mit einem leichten Grinsen auf den Lippen.

"Ja, schön. Aber du weißt genau, dass das Mistding schlicht und ergreifend eingefroren ist."

"Klar. Aber funktionieren muss er ja. Die Kunden machen mich wahnsinnig. Die sind zu blöd, den Preis einfach an der Säule abzulesen. Stattdessen kommen sie rein und wollen diskutieren."

"Ja, das ist ja immer das Gleiche. Aber mal im Ernst. Guck mal aufs Datum - Soll ich jetzt jedes einzelne Element aufschrauben und nen Föhn dranhalten, damit die Ziffern auftauen?"

"Wenn dir nichts anderes einfällt, dann ja. Aber vergiss nicht, dass wir die Arbeit auf Leitern hier verboten haben."

"Das Ding ist knapp 6 Meter hoch. Was soll ich da ohne Leiter? Mich auf das Dach des Firmenwagen stellen?"

Gute Idee. Dann mach mal.

Ich war auf 180. Jetzt musste ich also den Firmenwagen so rangieren, dass ich von seinem Dach aus an die einzelnen Ziffernelemente herankommen konnte. Rückwärts fuhr ich an den Mast heran. Draußen neben dem Wagen stand der Tankwart, den ich dazu verdonnert hatte, mir als Einweiser behilflich zu sein. Leider sah er in die falsche Richtung und schwadronierte lieber über die Gründe der Vereisung - Kühle Energiewellen, die der erzböse, kapitalismusfeindliche Besitzer des Nachbarhauses jeden Tag auf den Mast richtet, um der Tankstelle aufs Übelste zu schaden. Er suche schon seit Monaten in dessen Müll nach den Beweisen. Derartige Schwurbeleien erzählte er mir jedes Mal, wenn ich da war. Bräsig gelabert geschah, was mir geschehen musste. Es schepperte. Ich hatte den Wagen gegen den Mast gesetzt. Er schaukelte vor sich hin. Große Eisbrocken fielen herab. Mit einem Mal erklangen eine Vielzahl altersschwacher 12V-Motoren. Die Ziffern hatten sich durch den Stoß offenbar freigeschaukelt und liefen surrend an. Die korrekten Preise setzten sich. Das Glück ist wohl doch mit den Dummen.

"Ja Mensch", rief der Pächter. "Das ist natürlich auch ne Lösung. Ich kaufe mir einfach nen alten Bully und fahre dann im Winter jeden Tag einmal herzhaft gegen den Mast. Geile Sache. Danke für die Anregung. Frohes Fest."

Ich nahm es als Anlass, die Szenerie zu verlassen. Wenn ich mich jetzt beeilte, wäre ich mit Glück zum Nachtisch daheim. Und die Familie wäre zu vollgefressen, um mir etwas entgegenzusetzen. Endlich beginnt MEIN Weihnachten.


Neuss, 14:00

Auf dem Heimweg musste ich noch einmal in Neuss stoppen. Wieder hatte ein Kunde einen falschen Preis gesehen. Wieder war der Kunde offensichtlich blind. Wieder waren wertvolle Minuten verloren. Noch während ich wieder ins Auto steigen wollte, klingelte erneut das Telefon. Totalausfall der Waschhallenbeleuchtung in Waltrop. Waltrop - Das bedeutet, ich fahre genau zuhause vorbei, um dann nochmal 30 Kilometer in die andere Richtung zu heizen. Ich könnte kotzen. Auf der A57 werfe ich wütend einen spitzen Eiszapfen, den ich in Neuss vor Wut von einem Balken gebrochen habe durchs Seitenfenster auf die Gegenfahrbahn. So eine verdammte Scheiße.

Waltrop, 16:00

Wenn ich hier noch öfters hinkomme, kann der Nachbar nächstes Jahr mit blöden Schuhen in allen Regenbogenfarben dekorieren. Das wird lustig.

Zwei Stunden bis Bescherung daheim. Als ich eine Dreiviertelstunde zuvor an der Heimat vorbei fuhr, konnte ich das Essen nahezu über die Autobahn hinweg riechen. Nun war ich also in Waltrop, dem vermutlich besinnlichsten Ort der Welt. Die Uckermark des Westens.

Es wurde bereits dunkel und als ich ums Shopgebäude herumging und die Waschhalleneinfahrt ansteuerte, empfing mich dort alles andere als besinnliche Dunkelheit. Alle 8 Lampen in der Halle waren an. Halt, stimmt nicht. Ganz am Ende, in der unwichtigsten aller unwichtigen Ecken, quasi am VfL Wolfsburg der Waschhallenelemente, war genau eine Leuchtstoffröhre aus. Nicht. Euer. Ernst.

Wutentbrannt stürmte ich in den Shop auf den Besitzer zu, einem Mann, dessen ganze Erscheinung derart den Swag aufdrehte, dass irgendwo in München David Alaba verschämt in den Weihnachtslauchteller weinte.

"Sag mal, hast du nicht geschrieben, deine Waschhalle wäre komplett aus?"

"Ist sie doch.", antwortete der Swag treuherzig.

"Da ist EINE von 8 Lampen aus. EINE."

"Ja. Eine ist bereits eine zu viel. Unsere Stationsmaxime ist es, absolut GRÖSSTEN Wert auf ein optimales Erscheinungsbild zu legen." sagte er, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug ein paar orangene Sneakers mit dürren Beinen darüber übereinander. Ich war müde, mit dieser Karikatur eines hippen Jungunternehmers zu diskutieren.

"Okay... Dann sag mal eben an der Kasse Bescheid, dass ihr für 'nen Moment keine Wäschen verkauft."

"Tun wir eh nicht. Die Waschhalle ist über Weihnachten geschlossen, um die Nachbarn nicht zu belästigen."

"Mooooment. Heißt das, es würde sowieso kein einziger Kunde die blöde kaputte Röhre da sehen, weil die Waschhalle zu ist? Heißt das, die ganze Sache ist heute VOLLKOMMEN überflüssig????"

"Im Prinzip ja. Aber unsere Stationsmaxime..."

Wenige Minuten später war die Lampe repariert und die Nachbarn freuten sich über ein paar knallige Schuhe, die wie zufällig über den Gartenzaun gesegelt waren. Es war nun später Nachmittag, die Sonne war untergegangen und vor vielen tausend Jahren lag eine Frau irgendwo in einem Stall in Israel in den Wehen und schrie mit einem Esel um die Wette, während Huftiere dabei zusahen. Mir war das freilich egal, denn ich konnte jetzt endlich nach Hause. Endlich, jetzt wirklich und endlich, konnte MEIN Weihnachten beginnen.

22:45

This is the End. My only friend, the End...

Ein wunderbares Weihnachtsfest neigt sich seinem Höhepunkt entgegen, als mich nur knapp ein Stein verfehlt, den ein LKW in einem Schlagloch aufwirbelt. Ich stehe auf der A57. Einige Stunden zuvor hatte mich, wenige 100 Meter vor der heimischen Haustür entfernt, erneut die Station in Neuss angerufen, weil - Überraschung - immer noch Zweifel daran bestanden, dass der Preismast so steht, wie er es solle. Mein Chef bestand schmatzend darauf, dass ich doch nochmal kurz nachsehen solle, während mir gleichzeitig ein paar Adern platzten. Im Tiefflug schepperte ich in Richtung Neuss, bis meine Fahrt auf der A57 jäh unterbrochen wurde. Irgendwas Spitzes hatte einen Reifen gelocht.

Das ist nun auch schon Stunden her. Dummerweise meldet sich die Notfallzentrale der Gelben Engel nicht auf meine Anrufe, weil DIE offenbar an diesen Feiertagen besseres zu tun haben. Ich harre an der orangenen Notrufsäule, die mich furchtbar an besonders hässliche Schuhe erinnert, verzweifelt darauf wartend, dass die nervige Warteschleifenmusik sich zu einer menschlichen Stimme wandelt. Langsam frieren mir die Finger ein. Von der Firma will mich auch keiner holen. Das soll der Notdienst machen. Mein Pech, wenn ich das selbst bin.

Ich habe diese Autobahn noch nie so leer gesehen. Es ist faszinierend und bedrückend gleichzeitig. Und damit irgendwie wie Weihnachten selbst. Zumindest in meinen Augen.

Ich habe weder was zu essen, noch zu trinken. Ein wenig ADAC-Kaffee wäre wirklich hilfreich, aber ich habe gelernt, wo keine Autos, da keine Vollsperrung und entsprechend kein Gratis-Kaffee.

Ich könnte hier wirklich Hilfe brauchen. Sollte mich jemand abholen wollen, ich stehe irgendwo zwischen Krefeld-Oppum und der Raststätte Geismühle. Falls das einer kennt. Ich bin der mit der Warnweste. Wäre echt nett von euch.

Allen anderen fröhliche Weihnachten. Feiert schön. Ohne mich. Ihr Arschlöcher.


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