Stupidedia:Adventskalender 2014/3

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Herr Muster und das Weihnachtsfest

Bahnstation Gdynia Grabówek 6.jpg

Es war Heiligabend. Herr Muster schloss zufrieden die Tankstelle in einem Hamburger Randbezirk ab, in der er heute die Abschlussschicht, bis 13 Uhr hatte. Über die Feiertage blieb die Tankstelle geschlossen.

Er freute sich auf den gemütlichen Nachmittag mit seiner Frau und seinen Kindern und den noch gemütlicheren Abend. Er dachte an das gute Essen, das Sabine kochen würde, und konnte die Bratensoße förmlich riechen. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer war bereits geschmückt und Herr Muster stellte sich vor, wie seine beiden Kinder, Jaqueline und Justin, mit funkelnden, erwartungsvollen Augen vor dem glitzernden Baum standen.

Da kam wieder dieses Zwicken in der Bauchgegend und Herrn Musters Stimmung schlug in Übelkeit um. Herr Muster hatte noch keine Geschenke besorgt. Er schob das seit zwei Monaten vor sich her.

Sabine Muster würde um 16 Uhr mit den Kindern von der Oma nach Hause kommen. Das war in drei Stunden. Dann musste auch Herr Muster zu Hause sein. Mit Geschenken.

Die meisten Geschäfte hatten um diese Uhrzeit bereits geschlossen. Hier im Stadtteil war nichts mehr geöffnet. Herr Muster lief durch den einsetzenden Schneefall zur Hochbahn, in der innigsten Hoffnung, in Hamburgs Innenstadt habe noch ein Kaufhaus offen.

Nach knapp 10 Minuten stand er auf dem unüberdachten Bahnsteig. Eisiger Wind blies über die kalte Station. Laut Anzeigetafel kam die nächste Bahn, mit Fahrtrichtung Innenstadt, in 24 Minuten. Es war jetzt zehn nach eins. Die Fahrt würde 20 Minuten dauern. Herr Muster wäre um fünf vor zwei am Hauptbahnhof und hätte dann noch ungefähr 1½ Stunden Zeit, um durch die Fußgängerzone zu gehen; oder besser, zu rennen. Vorher musste er am Zielbahnhof noch auf den Fahrplan schauen. Er musste spätestens die letzte Bahn erreichen, die ihn pünktlich, vor seiner Frau und den Kindern, heimbringen würde.

Herr Muster schlug den Kragen seiner Jacke hoch, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Er blickte zur Anzeigetafel. Diese gab bekannt, dass Herr Musters Zug ca. 5 Minuten Verspätung habe. Innerlich kochte Herr Muster, sodass der Schnee unter seinen Füßen zu schmelzen begann.

Als die Bahn mit zehnminütiger Verspätung in den Bahnhof einfuhr, spürte Herr Muster seine kleinen Zehen nicht mehr. Der Waggon war voll von Menschen, die unterwegs zu irgendwelchen Weihnachtsfeierlichkeiten waren. Herr Muster hoffte, sich möglichst bald in die Reihen dieser glücklichen Menschen einreihen zu können. Während der Zug gen Innenstadt rumpelte, dachte Herr Muster nach, was er seinen Lieben zu Weihnachten schenken könnte.

Bei Sabine war es einfach. Sie mochte Schmuck. Sie trug zwar nie viel davon, immer nur ein oder zwei Teile, aber sie hortete das Zeug gerne. Das liebte sie. Wenn sie ihre Schmuckschatullen auspackte, sah das immer aus, als hätte sie ein Piratenschiff gekapert. Herr Muster schickte ein leises Stoßgebet zum Himmel, dass noch irgendein Geschäft geöffnet hätte, in dem er Schmuck kaufen konnte.

Und dann waren da noch die Kinder. Die waren 14 und 17 Jahre alt und standen auf digitalen Elektrokram. Vor allem der Junge. Das Mädchen gab zusätzlich noch horrende Unsummen für Kosmetik aus. Außerdem ging sie oft in die Disco.

Herr Muster überlegte, ob er seiner Tochter einfach Geld schenken sollte. Hübsch verpackt, mit einer Schleife und einem Aufkleber drauf. Er entschied sich dagegen. Zu unpersönlich. Aber ist ein Schminkkoffer persönlicher? Hätte er sich schon früher um die Geschenke gekümmert, dachte Herr Muster, dann hätte er zur Lieblingsdisco seiner Tochter gehen und ihr eine Jahreskarte kaufen können. Aber hatte sie nicht neulich was von einem Musiker gesagt, auf dessen Musik sie steht? Wer war denn das noch mal? Jaqueline hatte ihm dieses Lied vorgespielt, das auch immer im Radio lief. Er könnte es in einem CD-Geschäft vorsingen. Dort würde schon jemand das Lied erkennen.

Und Justin würde ein Spiel für sein Nintendo... nein... PlayStation? Ne... Xbox? Herr Muster versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was für eine Spielekonsole sein Sohn hatte. Aber der Grundplan stand schon fest:

  • Schmuck kaufen
  • Musik kaufen
  • Konsolenspiel kaufen

Aber was, wenn er etwas davon nicht bekäme? "Nächster Halt: Hauptbahnhof. Umsteigemöglichkeit zum Nah- und Fernverkehr!"

Herr Muster erwachte aus seinen Gedanken. Er schaute auf seine Casio-Digitaluhr. 14.15 Uhr. Die Bahn hatte unterwegs noch mehr Verspätung draufgelegt. Der Schneefall war mittlerweile so stark geworden, dass die Hochbahn beinahe im Schritttempo vorangekrochen war. Als die Türen sich öffneten, drängelte Herr Muster sich durch die Massen der aus- und einsteigenden Fahrgäste. Er schubste auf der Treppe zum Ausgang ein Kind beiseite, beschimpfte eine alte Frau und fluchte einmal laut, um seiner Missstimmung Ausdruck zu verleihen.

Als Herr Muster aus der Bahnhofshalle ins Freie stürzte, lag der Schnee schon viel höher als bei der Abfahrt. Er versank bis über die Knöchel in dem kalten Pulver, das in seinen Schuhen zu Eiswasser wurde. Die Sichtweite im Gestöber betrug kaum mehr als 15 Meter. Eisige Kälte durchzog Herrn Muster, als er zwischen all den Menschen hindurch in Richtung Fußgängerzone stürmte. Je näher er dieser kam, desto weniger Menschen kamen ihm entgegen. Am Rande des Zentrums waren schon alle Geschäfte geschlossen. Herr Muster stapfte durch den Schneesturm wie einst sein Urgroßvater an der Wolga. Herr Muster hätte in diesem Moment auch lieber im Schützengraben vor Stalingrad gelegen. Doch dann erreichte er das große Kaufhaus.

Das große Kaufhaus

Friedhelm war auf seinem letzten Rundgang. Danach würde er das Kaufhaus in die Obhut der Überwachungskameras und Alarmanlagen geben. Alle Türen waren verschlossen. Friedhelm rüttelte an jeder Tür des Haupteingangs, um sicherzugehen.

"Schön", sagte er. "Alles dicht. Dann darf ich auch Weihnachten feiern gehen."

Für einen Moment hielt er inne. Ihm war, als hätte sich da draußen in dem Schneegestöber etwas bewegt. Und tatsächlich. Ein Schatten trat aus dem weißen Flockenwirrwarr heraus und rüttelte an der verschlossenen Tür. Flehentlich blickte er Friedhelm an und rief irgendwas von "Frau" und "Kindern". Friedhelm konnte nur mit den Schultern zucken. Ihm war der Fremde da draußen nicht geheuer. Schließlich war Friedhelm kein richtiger Wachmann, sondern nur ein Langzeitstudent mit einem schlecht bezahlten Nebenjob in einem Kaufhaus. Friedhelm rief dem Fremden "Frohe Weihnachten" zu und verschwand wieder im Inneren des Gebäudes.

Draußen vor der Tür

Blizzard Frau.jpg

Herr Muster fluchte laut in das dichte Schneetreiben hinein. Von irgendwo her drangen zustimmende Laute und Gelächter herüber. Offensichtlich Betrunkene. Herr Muster blickte auf die Uhr und ihm fiel ein, dass er am Bahnhof nicht darauf geachtet hatte, wann der letzte für ihn mögliche Zug abfuhr.

"Egal", sagte er zu sich selbst. Ohne Geschenke konnte er ohnehin nicht hier weg. Es war 14:30 Uhr, als Herr Muster weiter durch die Hamburger Innenstadt stürmte. Irgendwas muss doch noch offen haben. Nichts. Gar nichts. Das kann doch nicht sein?! Selbst die Bratwurstbuden waren schon geschlossen. Woher jetzt die Geschenke bekommen? Wo konnte er jetzt noch was kaufen?

Da hörte Herr Muster Stimmen, die sich unterhielten und er strebte in die Richtung, aus der sie kamen. Durch den fallenden Schnee konnte er ein junges Pärchen ausmachen. Herr Muster sprach die beiden an: "Entschuldigen Sie! Tragen Sie Schmuck?"

Die Frau blickte erschrocken drein und der Mann zog sie schnell weiter.

"Nein warten Sie!", rief Herr Muster. "Sie verstehen mich falsch! Ich brauche ein Geschenk für meine Frau und alle Geschäfte haben schon geschlossen und meine Kinder..."

Das Pärchen begann zu rennen und verschwand schnell im Schneeweiß.

Herr Muster rannte, um Menschen zu finden. Da! "Entschuldigung?"

Eine Gruppe Mittfünfziger.

"Ich habe ein Problem. Ich habe mich zu spät um die Weihnachtsgeschenke gekümmert und muss Schmuck für meine Frau kaufen und...:"

Die Mittfünfziger eilten ängstlich davon. Herr Muster schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Sollte er mit leeren Händen nach Hause fahren, um wenigstens als ehrlicher Mensch dazustehen? In diesem Moment löste sich eine zwielichtige Gestalt aus dem Schnee. Der Typ trug einen langen Mantel und einen Hut, unter dem fettiges schwarzes Haar hervorragte. Er sprach Herrn Muster leise an:

"Ich habe gehört, Sie wollen Schmuck kaufen?"

"Ja", entgegnete Herr Muster.

"Dann sind Sie bei mir genau richtig", sagte die zwielichtige Gestalt. "Ich zeige ihnen mein Sortiment. Hier."

Herr Muster staunte. "Das ist ja eine ganze Menge!"

"Und alles dabei", sagte der Händler. "Uhren, Ringe, Hals-, Arm- und Beinketten, Ohrringe, Fingerringe, olympische Ringe, alles, was das Herz begehrt. Im Weihnachtsangebot habe ich goldene Heiligenscheine, Kronen und Diademe!"

"Ich nehme alles!" Herr Muster war fest entschlossen.

"Alles?"

"Ja. Wie viel Euro willst du dafür?"

"Das sind alles echte Schmuckstücke und..."

"Quatsch. Die sind doch nicht echt."

"Aber selbstverständlich! Die..."

"Wenn die echt wären, würdest du sie nicht an Heiligabend auf der Straße verkaufen. Ich gebe dir 80 Euro für alles. Ich habe seinerzeit in der Metallbranche gelernt. Ich weiß, wie viel dein Plunder wert ist, und bei 80 Euro machst du immer noch eine Menge Gewinn."

"Na gut", sagte der zwielichtige Händler. Weil heute Heiligabend ist. 100 Euro für alles."

"80."

"O.k."

"Danke."

"Dank' dir auch. Frohe Weihnachten."

"Dir auch! Feier schön!"

"Du auch! Tschüss!"

"Tschüss!"

Nun, da das Glück sich auf die Seite Herrn Musters geschlagen hatte, wollte er aufs Ganze gehen und sich einfach nehmen, was ihm zustand. Er ging zurück zum großen Kaufhaus. In einem Schaufenster lagen Spiele. Und eine Konsole! Fest entschlossen trat Herr Muster in die Schaufensterscheibe. Ein markerschütternder Schrei durchfuhr die schneeverwehte Fußgängerzone. Die Alarmanlage fing schrill und laut an, zu heulen. Herr Muster schnappte sich die Konsole und ein paar Spiele und rannte. Dass seine Wade von unten bis oben aufgeschlitzt war, interessierte ihn nicht. Ebenso wenig die Tatsache, dass er eine Blutspur hinter sich zog, die den Schnee rosa färbte. Doch schnell fiel neuer Schnee darauf und die Spuren wurden mit Weiß überdeckt.

Schmerzgeplagt humpelte Herr Muster durch die klirrende Kälte. Für einen kurzen Moment wurde ihm Schwarz vor Augen. Dann blickte er auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Er brauchte jetzt noch schnell ein Geschenk für seine Tochter und dann musste er schnellstens zurück zum Hauptbahnhof. Die Polizei raste mit Blaulicht und Sirene an ihm vorbei. Würde Herr Muster noch einen Einbruch begehen, dann wäre die gesamte Innenstadt binnen kürzester Zeit voller Polizisten.

Herr Muster überlegte, ob man im Bahnhof CDs kaufen kann. Er beschloss, dass es nicht schaden kann nachzusehen, da er ohnehin in Erfahrung bringen musste, wann sein Zug abfuhr. Vielleicht fände sich im Bahnhof auch ein alternatives Geschenk. Herr Muster rannte. Es war kurz nach drei, als er von einer kräftigen Schneewehe in die Bahnhofshalle gepustet wurde. Drinnen ging nichts mehr. Der Bahnhof war überfüllt mit gestrandeten Reisenden. Wegen des Unwetters fuhr kein einziger Zug mehr in Norddeutschland.

Herr Muster fluchte laut und gotteslästerlich in die Bahnhofshalle hinein. Er erhielt dafür breite Zustimmung von allen Seiten. Einige applaudierten sogar. Herr Muster ging zurück nach draußen. Kein Taxi weit und breit. Die waren jetzt vermutlich dauerfrequentiert. Die Busse fuhren auch nicht. Nur die U-Bahn war noch betriebsfähig. Doch die fuhr nicht dahin, wo Herr Muster hin musste. Nun stapfte er wieder durch den mittlerweile fast knietiefen Schnee und fand in einer abgelegenen Seitengasse genau das, was er gesucht hatte. Ein altes Auto mit billigem Schloss. Noch könnte er es schaffen, vor Sabine und den Kindern zu Hause zu sein. Unterwegs könnte er noch am Automaten 30 Schachteln Zigaretten für seine Tochter kaufen, denn Jaqueline rauchte heimlich.

Herr Muster kam mit dem gestohlenen Wagen gut durch den Verkehr. Es waren kaum Fahrzeuge unterwegs. Nur der Schnee störte. Aber Sabine dürfte mit den Kindern auch nicht schneller vorankommen. Da klingelte Herr Musters Handy. Sabine stand auf dem Display. Er beschloss, nicht ranzugehen. Kurz darauf erhielt er eine SMS:

"Wir kommen später! Kuss, Biene!"

"Na, Gott sei Dank!", jubilierte Herr Muster. Er könnte es pünktlich schaffen. Würde er aber noch am Zigarettenautomaten 30 Schachteln kaufen, dann würde das zu viel Zeit kosten. Ein letztes Mal änderte Herr Muster an diesem Abend sein Vorgehen.

Herr Muster kam zeitgleich mit seinen Lieben auf dem heimischen Parkplatz an.

"Papa", sagte Jaqueline. "Was ist das für ein Auto?"

"Das, mein Schatz, ist dein Weihnachtsgeschenk." Und an Sabine und Justin gewandt sagte er: "Eure Geschenke sind im Kofferraum."


Es war ein fröhliches Weihnachtsfest für Familie Muster und alle waren glücklich über die Geschenke, die Herr Muster ihnen gemacht hatte.


~ Ende ~


Wir wünschen euch eine frohe Weihnachtszeit!

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