Poesiealbum
as Poesiealbum ist einer der Vorläufer der heute weit verbreiteten sozialen Netzwerke. Es besteht anfangs aus einer Menge unbeschriebener Seiten. Meist sind diese aus einfachem Papier, in nobleren Ausführungen kommt auch hochwertiges, reich verziertes oder marmoriertes Schöpfpapier zum Einsatz. Die Schriftzeichen werden später von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren mit Hilfe geeigneter Schreibwerkzeuge hinzugefügt. Unter Umständen entstehen dabei halbwegs sinnvolle Worte und in Einzelfällen ganze Sätze.
Komm doch schnell herab zu mir, denn ich gehör seit langem dir.
Form und Inhalt der Einträge
Fast immer werden Einträge in Reimform verfasst, Auch wenn Beiträge unter Umständen nur die Qualität eines Straßenraps (Musikähnliche Darbietung) erreichen. Fast immer ist die Länge der Einträge vom Eigentümer oder der Eigentümerin des Poesiealbums vorgegeben. Jedem Eintragenden steht fast immer nur eine Seite für Ergüsse zur Verfügung. Eine Ausnahme bilden hier diejenigen, von denen man sich für den späteren Lebensweg noch weiteres erwartet. Bei überschaubaren Freundeskreisen werden Seiten schon für bestimmte Personen reserviert. Wird davon ausgegangen, dass auch wirklich ein erinnerungswürdiger Eintrag zustande kommt, wird auf der rechten oberen Ecke der Name des erwarteten Autors mit Kugelschreiber eingetragen. Bestehen jedoch Zweifel über diesen Punkt, wird der Name nur mit Bleistift vermerkt, um die Person später durch Entfernen des Namens aus dem Gedächtnis löschen zu können. Die Unterschrift unter einem zu ignorierenden Beitrag kann jederzeit als unleserlich deklariert werden.
Bebilderung
Wichtig für die stilvolle Ausgestaltung von Einträgen ist eine passende und liebevolle Bebilderung. Bei genügend Talent oder genug Selbstvertrauen, um ungenügendes Talent zu ignorieren, verleiht eine kleine Zeichnung einer Seite eine ganz persönliche Note. Beliebte Motive sind hier Blumen, die von ihrer lieblichen Ausstrahlung her, jeder Scheibe Brot zur Ehre gereichen würden. Sehr beliebt war auch die Verwendung von Glanzbildern. Diese von den in der Kirche erhältlichen Heiligenbildchen inspirierten kleinen Kunstwerke verleihen einer Seite ein wenig Glamour, sind aber immer mit einem an Pädophilie erinnernden Nachgeschmack behaftet. Für die wirklich Faulen wurden die Glanzbilder in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr von einklebbaren Bildern verdrängt. Anfangs mussten diese noch auf der Rückseite angesabbert werden, um zu kleben. Nach und nach kamen aber immer mehr direkt selbst klebende Bilder zum Einsatz. Das geschmacklich interessannte Erlebnis beim Anlecken entfiel. Ein besonderer Ausdruck der Wertschätzung sind Preisschilder von Joghurtbechern oder ähnlichen, im Supermarkt erhältlichen Artikeln.
Naturfreunde klebten auch gepresste Blumen, Gräser und Blätter in die Alben. Auch zerdrückte Marienkäfer und ganze Horden getrockneter Ameisen lassen sich in Poesiealben finden.
Beispiele und Interpretation
Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen wackeln mit dem Arsch. Die Anjas und die Elken, alle riechen voll nach Barsch. - Dies ist ein gutes Beispiel für ausgelebte Herumzickerei unter Mädchen, die sich nicht mögen. Gepaart mit einer poetischen Ader, die den meisten Jungs in vergleichbarem Alter völlig fremd ist. Das Pendant in einer von Jungmannen benutzten Sprache würde Du und deine Freundin, ihr stinkt! lauten. Fast immer beginnen Reime mit dem Wort Du oder Mein, wenn dem Eigentümer des Albums eine persönliche Mitteilung gemacht werden soll. Hier geht der Beitrag dann über eine allgemeingültige Lebensweisheit hinaus. Anfangsworte wie Es oder Man leiten Sprüche mit wenig Tiefgang ein. Beliebt sind diese bei Lehrern, Verwandten und Politikern. Grundsätzlich ist die Zahl der Liebessäuseleien in einem Poesiealbum ein guter Gradmesser für die Beliebtheit des Eigentümers in seinem sozialen Umfeld. Ausgehend von einer weiblichen Besitzerin kann man ableiten: Je mehr Liebesschwüre, desto größer die Chance auf eine spätere Karriere als Schulschlampe.
Altersgruppe
Aus verständlichen Gründen werden Poesiealben erst ab dem Grundschulalter zur Weitergabe von Wertschätzung oder Schmähung benutzt. Sich reimende Eintragungen, die mit einer Mischung aus Brei und Bananenquark, dem Lieblingsschreibwerkzeug von Kleinkindern, erstellt wurden, können außer den eigenen Müttern die wenigsten Leute etwas abgewinnen. Auch mit Speichel versetzter Butterkeks am Rand einer Seite kann den lyrischen Genuss einer Eintragung bis aufs Äußerste trüben. Mit einsetzender Pubertät werden die Eintragungen meist eindeutiger. Spätestens, wenn quer über eine Seite das Wort Ficken! auftaucht, verliert das Poesiealbum seine kindliche Aura der Unschuld und verschwindet auf Jahre in einem Schuhkarton. Durch die Jahre hinweg folgt es verborgen seinem Eigentümer oder seiner Eigentümerin, um dann im Rentenalter wieder hervorgekramt zu werden und als Erinnerungsstütze zu dienen, wer von den einstmals gekannten Personen noch am Leben sei.