Generation Maybe
Besonders die Geschichtswissenschaft neigt dazu sogenannte Generationenstempel zu vergeben, um später genau festlegen zu können, welche Geburtenjahrgänge für Genozide, Wirtschaftskrisen oder Weltkriege verantwortlich sind. Dadurch werden die eigenen Fehler negiert und man kann selbst mit gutem Gewissen weiterhin das Erbe nachfolgender Generationen mit seinen egoistischen Zielen zerstören oder mindern, weil ja bereits ein geeigneter Sündenbock gefunden ist.
Nach den „Baby-Boomern“ der Nachkriegsjahre folgten die „Generation X, Y (mit dem Yuccie als Kulturträger)“, die „Generation Golf“ und schließlich die „Generation Maybe“ der Zwentysomethings der 2000er Jahre, auf deutsch auch „Vielleichtsager“ genannt. Mit den 2010er Jahren folgte schließlich die Generation Self-Improvement. Die Generation Maybe ist die erste Generation, deren Eltern alle nach dem Krieg geboren sind und die deutsche Teilung nur mehr aufgrund des Solidaritätszuschlags wahrnehmen. Diese Wischiwaschi-Problemgeneration ist gut ausgebildet, unentschieden, eigenschafts- und profillos, unerheblich, lauwarm, hat keinen Mut und Plan, will sich nicht mehr festlegen, weder in Liebe, Politik, noch Konsum, und kann nur eines: reflektieren. Deshalb ist ihr Lieblingssatz: „Ich sehe dies eher ambivalent“.
In ihrer Welthauptstadt Berlin machen die „Maybes“ in der Hauptsache viel Wind um nichts, täuschen blinden Aktionismus vor und sind mit den vielen Wahlmöglichkeiten in der heutigen Welt rettungslos überfordert, sind also offen für alles und dadurch nicht ganz dicht. Sie leiden unter chronischer Abulie, der Entscheidungsunfähigkeit. Sie haben meist keine Ahnung, aber viel Spaß dabei und leben in der eigenen Spekulationsblase. Diese Zögerer und Zauderer sind die ersten, die Bundeskanzler Helmut Kohl und das digitale Zeitalter sozialisierten.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung des Begriffs als Zeitalterphänomen
Allgemeines
Die Entstehung des Begriffs der Generation Maybe durch den Journalist Oliver Jeges ist zugleich eine ihrer Typisierungen, denn aufgewachsen und emotional gelenkt durch die Werbung, prägt diese auch ihren Namen: Die bekannte Zigarettenmarke Marlboro wirbt nämlich mit dem Slogan „Don't be a maybe“, also „sei kein Unentschlossener“, weil sich viele dieser Generation lieber für einen fiesen Lungenkrebs entscheiden sollen, als überhaupt nicht zu entscheiden. Früher war es einfacher, man konnte rauchen wie ein Schlot, weil die Medizin es noch nicht besser wusste. Heute muss die Werbung jedoch dem bärtigen Hipster-Typen, der lieber „eventuell“ sagt, als „ja“, sein ultracooles Profil und den Lungenkrebs regelrecht aufzwingen, weil er eigentlich überhaupt keine Eigenschaft will, erst recht nicht Lungenkrebs. Man kann diese Generation deshalb auch, frei nach Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“, „Generation ohne Eigenschaften“ oder „Generation ohne gewollten Lungenkrebs“ nennen.
Die Postmoderne
Hintergrund und Nährboden für die Maybes ist das Zeitalter der Postmoderne, das Freiheit schenkt und durch diese Freiheit antreibt. Sie ist eine Zeit ohne Vorbilder und Ideale, weshalb man in seiner Eigenschaftslosigkeit durch Überforderung ständig scheitert und das Burn-out-Syndrom quasi als Berufskrankheit der Postmoderne angesehen werden kann. Sie ist eine Zeit, in der Selbstverwirklichung aufgrund des Fehlens des Selbst nicht funktioniert, weil man eigentlich, geprägt vom Infantilismus, dem Jugendwahn, nicht erwachsen werden will, oder es so lange wie möglich hinauszögert. Lieber schnorrt man die Eltern um einen Zuschuss für die nächste Nepal-Reise an, um sich ja nicht den Unwägbarkeiten des Lebens stellen zu müssen. Der Berufsjugendliche wird zum „Jeinsager“, einer, der nicht mehr zuspitzen kann.
Schuld daran ist eine Diktatur des Relativismus. Weder Aufklärung, noch Idealismus und die Idee vom sinnvollen Fortschritt der Geschichte besitzt noch Legitimationskraft und Verbindlichkeit. Die Menschen der Postmoderne glauben einfach nicht mehr daran. Sie glauben nur mehr, dass die Postmoderne ein Projekt der Anerkennung von Pluralität ist. Die Wahrheit und Universalität gerät so derart außer Mode, wie vor ein paar Jahren der Vollbart des jungen Mannes und die hochgeschlossene Spitzenkragenbluse der jungen Frau.
Indes verspricht die wirkliche Welt am Kiosk „Fakten, Fakten, Fakten“, sucht Mutige, die endlich die Wahrheit sagen, und sei es der Papst, und erhält doch nur „Fake, Fake, Fake“. Ein Zeitalter, in dem alles möglich ist, überfordert die hilflosen Menschen, denn die Angst vor Veränderung lähmt sie zu aller Zeit, zumal die Veränderung in der Postmoderne die einzige Konstante ist. Das postmoderne “Anything goes!“ überrumpelt sie und lässt sie ratlos zurück.
Soziologische Charakterisierung der Generation Maybe
Im Alltag
Die Maybes kämpfen in der Postmoderne gegen diese Verwirrung, indem sie beispielsweise von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprechen und so zumindest kompetent wirken. Ohne zu handeln kann man reflektieren, was anstrengend genug ist und wiederum zu Überforderung führt. Der Satz aus dem Roman von Benjamin Kunkel „Unentschlossen“ charakterisiert diesen Zustand: „Nicht selten lag ich nachts wach und fühlte mich wie ein Fetzen Soziologie“. Alles nährt sich aus der Gewissheit, dass beim Öffnen einer Tür hundert andere zufallen.
Ohne Ideen und Begrifflichkeiten sind die Maybes zerfasert und von einem übergroßen Individualgedanken ergriffen, der sie durch die Gegend irrlichtern lässt, was ihnen immer noch besser erscheint, als jede Form von kollektivistischer Vergesellschaftung. Außer diesem Individualitätszwang scheint jedoch keine Definition wirklich zu greifen. Man setzt sich für Recht und Freiheit im Internet ein, saugt aber illegal Daten herunter, man ist apolitisch, misstraut der Parteiendemokratie und gründet dennoch die Piratenpartei. Als Hedonist ist man nur auf Spaß und Erlebnis bedacht, lebt polyamourös, ohne sich für immer mit einem Menschen zu vereinen, zündet aber Kerzen an, wenn ein Ausländer von Nazis angezündet wird und träumt von der großen Liebe.
Geht man auf Reisen bedeutet dies keine Flucht vor der Realität, nein, der Maybe taucht tief in sie ein. Ob Rucksacktouren durch Thailand oder ein Auslandssemester in Peking – er weiß, wie der Wohlstand ihn liebkost. Sieht er hingegen die Bilder der Flüchtlingsboote vor Europas Küsten und die Made-in-China-Labels auf seinen Designer-Klamotten, bekommt er die beklemmende Erinnerung, dass dieser Wohlstand kaum zu halten sein wird.
Ebenso unklar ist, gegen wen oder was sich Maybes auflehnen sollen. Die einen tun es gegen Traditionen, die anderen gegen Progressivität, manche wollen beides zugleich. Als Genussmensch will man natürlich dennoch den perfekten Körper besitzen, der Wunsch nach Familie kollidiert mit der Freiheit des Single-Daseins. Schlussendlich verkündet man dann doch: „Irgendwann möchte ich auch Kinder haben“. Das ausgeprägte ökologische Bewusstsein spart natürlich den eigenen fetten SUV in der Garage aus. Andererseits werden diese etablierten Statussymbole beim Car-Sharing einfach negiert.
Beruf
In der Ausbildung sind den Maybes Gedanken über methodische Zugänge zu Doktorarbeiten fremd. Es gibt keine Methodenzwänge mehr und deshalb auch keine Festlegungen. Die Lehrstühle unterstützen diese Nichtentscheider noch, fließen den akademischen Ausbildungsstätten doch so oder so ausreichend Gelder in Form von Studiengebühren zu.
Man darf kein Jammerlappen sein, wenn die Maybes wie Zugochsen durch das Studium getrieben werden. Natürlich wird danach dankbar jedes unbezahlte Praktikum angenommen und erlangt so den Spott arrivierter Generationen, die einem dann gerne abfällig das Label „Generation Praktikum“ aufdrücken. Der Vielleichtsager rebelliert jedoch nicht, er tastet sich lieber durch das Dickicht der unendlichen Möglichkeiten. Er bewegt sich entweder im Dispo oder im Unklaren.
Eine Generation ohne Eigenschaften ist aber keine Generation ohne Fähigkeiten. Meist sind es junge Menschen, die hochgebildet sind, akademische Grade besitzen und mehrere Fremdsprachen sprechen. Derrida, Foucault, Guattari, Butler und Deleuze sind Größen, über die man Bescheid weiß, aber nichts wirklich wissen will. Solch spezifizierte Ausbildung schafft jedoch auch große Räume für Nichtausbildung, weshalb jeder 5. dieser Vielleichtsager Auschwitz nicht kennt. Scharfes Bewusstsein wie Mut bleiben auf der Strecke und auf das was man sowieso nicht weiß braucht man sich nicht festnageln lassen.
Die Berufswahl lautet meist „Irgendwas mit Medien“, dabei soll es sich um einen sicheren Job, aber nicht um eine 40-Stunden-Woche handeln. Unsicherheit und Angst prägen nämlich den Maybe, der gerne auf der Stelle tritt, in selbstverschuldete Unmündigkeit fällt, weil er zwischen dem Willen zur Entfaltung und der Festanstellung pendelt.
Politik
Verantwortungsverweigerer können sich grundsätzlich nicht um anderes kümmern, weil sie mit sich selbst nicht klarkommen. Die Eigenschaftslosen gestalteten sich deshalb mit der Piratenpartei ein Refugium, in der sie ihre Unsicherheit im Umgang mit Themen der Zeit durch ziellosen Aktionismus und digitale Blendgranaten kaschieren können.
Von Maybes politische Antworten zu erwarten, ist Unsinn. Auch altgediente Staatenlenker geben schließlich zu, dass sie die Dynamiken der Finanzmärkte nicht durchdringen. Der Biss ins Biobrötchen bedeutet heute nicht unbedingt, dass dadurch nachhaltige Landwirtschaft gefördert wird und der afrikanische Kleinbauer doch seine Existenz verliert. Vielleicht stimmt beides, denkt sich der Vielleichtsager, schließlich hängt alles mit allem zusammen. Selbst jene, die sich zur Entscheidung durchringen keine Tiere mehr zu essen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass für ihr Sojaschnitzel jetzt Regenwald abgeholzt wird. Freut man sich über indische Frauen, die entschieden gegen Sexismus protestieren, war es kurz darauf unumgänglich sich von ihnen wieder zu distanzieren, weil sie für Vergewaltiger die Todesstrafe forderten. Aber darf man die eigenen Menschenrechtsprinzipien überhaupt auf nicht-westliche Länder anwenden oder ist das nicht schon wieder neokolonial? Warum sich also irgendetwas auf die Fahnen schreiben? Die Maybes ersparen sich deshalb die Antworten, es genügt ihnen, die richtigen Fragen zu stellen.
Die Welt ist zu komplex geworden, weswegen sich keine klaren Fronten mehr bilden und Gut und Böse offen darstellen. Ohne Finanzkrise war der Kapitalismus noch gut, ebenso der Kommunismus, weil man früher die Morde des Stalinismus noch mit antikommunistischer Propaganda abtun konnte. Nun aber meidet die Generation Maybe Ideologien, weil sie wie Scheuklappen wirken, die zwar die Angst nehmen, aber die Sicht beschränken. Überhaupt meidet man jegliche Art von Positionen. Da wird dann lieber differenziert, abgewogen, die Unsicherheit zugelassen, denn Klassenkampfparolen, Basta-Politiker und Parteibücher sind mega-out. Man fühlt sich unter der Regentschaft des Nichtregierens besonders wohl, große Koalitionen und eine sogenannte Rautenpolitik wird bevorzugt.
Politische Entscheidungen, sollten sie doch unumgänglich sein, werden mit Bedacht und je nach Kontext getroffen. Schließlich muss doch die Freiheit verteidigt werden, ACTA und immer neue Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung zwingen dazu. Man ist jedoch kein dogmatischer Schreihals, sondern ein Pragmatiker, also genau jener neuartige Stil, der Frauen in der Politik erfolgreich macht. Ein typisches Belegexemplar dafür ist Kristina Schröder, die für jedes große Problem eine kleine Lösung zimmert und große Lösungen zu kleinen Problemen anbietet, Hauptsache beides ist nicht zielführend, damit keine Festlegung erfolgt.
Medien
Als digital sozialisierte Jugendliche wurden Maybes Zeugen von 9/11 und des Afghanistan-Krieges, fielen auf die manipulierten Botschaften von Regierungen und Terroristen herein. Die globale Generation erlitt ihre Bewusstwerdung durch Terror, Finanzkrisen und Klimawandel. Der Anblick hilfloser Eisbären auf von der globalen Erderwärmung am Nordpol abgetrennten Eisschollen sensibilisiert ebenso, wie das Slumkind auf den Philippinnen, das sich auf der Großstadtmüllhalde seine Tagesration für sich und seine Familie ausgräbt. Aber für was wird man sensibilisiert? Smartphones, Terabytes, Nanosekunden und Megapixel lassen so viele Ursachen und Möglichkeiten zu, dass der Vielleichtsager schlichtweg vergessen hat, wie man Entscheidungen trifft, zumal es sich in der Unentschlossenheit bequem lebt. Diese Unentschlossenheit wird in Fernsehserien wie „Desperate Housewives“, „Two and a Half Men“ oder „How I met your mother“ vorexerziert, in denen neue Ideen selten von der Set-Couch ins reale Leben gelangen. Dann zermürbt um so mehr die große Palette von anscheinend erfolgreichen Lebensentwürfen bei Facebook und das Elends-TV im RTL-Nachmittagsprogramm bezeugt dann auch noch, wie schnell man scheitern kann. Maybes kennen die Schattenseite der unendlichen Freiheit. Der Zwang tritt nicht mehr von außen entgegen, sondern man hat ihn als Selbstdisziplin verinnerlicht.
Aber halt: Vom vernetzten Schreibtisch aus nimmt der Vielleichtsager sehr wohl an der Gesellschaft teil. Per Mausklick schließt er sich spontan gegen die Bankenmacht zusammen und protestiert gegen den Überwachungsstaat, während er bei Twitter gerade die Farbe seines Stuhlgangs postet. Trotzdem erreicht die Online-Petition für bessere Ausbildungbedingungen indischer Textilarbeiterinnen, die für Hugo Boss schneidern, ihr Quorum bereits nach drei Stunden. Doch sich auf ein Ziel zu beschränken würde bedeuten seine Meinung nicht ändern zu dürfen, was spätestens dann geschieht, wenn die Jeans von Hugo Boss im Klamottenladen um die Ecke gerade preislich herabgesetzt ist und so zum Kauf animiert.
Ausblick in die World of Maybe
Die Protagonisten der Generation Maybe schlafwandeln durch eine vernetzte Welt voller Möglichkeiten und spüren ihre Verunsicherung angesichts der Fülle von Optionen. Obwohl am liebsten Lebenskünstler, denken und fühlen sie wie Beamte, weil sie Verwalter des Erbes ihrer Großeltern und Eltern sein müssen. Eine Mentalität des Entweder-oder wird ihnen zum Verhängnis, denn man will überall dabei sein und nichts verpassen.
Als Gegenströmung erkennt man schon das Einigeln in vernetzte Vorstadteigentumswohnungen, in der sich Überforderte das Toilettenpapier und die Stöckelschuhe, bestellt bei Amazon und Zalando, vom Paketzusteller bringen lassen. Den unüberschaubaren globalen Strukturen versucht der Maybe in kleinräumigen Interessenforen auszuweichen.
Politisches Engagement per Mausklick strebt danach Platz an der Spitze für die Menge zu schaffen. Der Erfolg der Occupy-Bewegung macht dies deutlich. Graue Herren im Präsidialamt, die mit ihrem Finger vor dem Gesicht der Maybes ermahnend rumfuchteln und erklären, was Freiheit ist, werden dabei am wenigsten gebraucht. An morsche Ideologien klammert sich der Vielleichtsager schon längst nicht mehr, er nimmt vielmehr die Herausforderung einer individualisierten Gesellschaft an und enttäuscht damit die Generationen-Basher. Der Sog sozialer Netzwerke bringt nämlich einander auch näher, über geografische Grenzen hinweg.
Die Zeit der großen Kollektive geht ihrem Ende entgegen, der Maybe kann Ziele formulieren, die sich nicht auf knackige Etiketten reduzieren. Er gehört einer Generation der Graustufen an, ähnlich dem Pullover eines Intellektuellen aus den 1980ern, der jedoch keineswegs farblos ist. Die Unsicherheit im Umgang bei Themen dieser Zeit muss nicht unbedingt als Manko betrachtet werden, sondern als Ausdruck eines geschärften Reflexionsvermögens. So kann das Zweifeln auch zur Auszeichnung werden. Und manchmal ist das „Vielleicht“ eines Maybe seine Art, Nein zu sagen.
Der Artikel Generation Maybe ist nach einer erfolgreichen Abstimmung mit dem Prädikat Gelungen ausgezeichnet worden und wird zusammen mit anderen gelungenen Artikeln in unserer Hall of Fame geehrt. Unbedingt weiterempfehlen! |