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Diverses:Seniorenresidenz Villa Kunterbunt

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Wer sich noch an die richtige Buchstabenreihenfolge erinnert kann mit Alzheimers (Plural) viele Punkte beim Alte-Menschen-Spiel Scrabble einheimsen.

Mit zunehmendem Alter können viele Menschen nicht mehr für sich selbst sorgen und sind daher auf Hilfe angewiesen – beim Einkauf, beim Gehen, beim Sterben. Und so geht es auch meiner Mutter, was mir spätestens in dem Moment klar wurde, als sie eines Tages vor meiner Haustür stand, um mich zum Fußballtraining zu bringen. Durchaus eine nette Geste, nur bin ich inzwischen 52 Jahre alt und meine Mutter ist 81. In meiner ehemaligen Jugendmannschaft spiele ich seit gut 35 Jahren nicht mehr. Und auch meiner Mama wurde nach einer Weile klar, dass ich ziemlich alt aussehe für einen 15-Jährigen und sie einen kleinen Fehler gemacht hatte. Aber alles halb so schlimm, schließlich hatte sie schlecht geschlafen und einen anstrengenden Tag, da könne das schon mal passieren.
So versuchte sie das Ereignis kleinzureden, doch in nächster Zeit häuften sich solche und ähnliche Aktionen, was nicht nur mir bewusst war, sondern auch ihr selber. Es war ihr nur zu unangenehm darüber zu reden, zu peinlich zuzugeben, dass sie vergessen hatte, wie man selber Köttbullar-Klöße macht oder ihr der Name der Nachbarin nicht mehr einfiel. Sie hoffte im Stillen darauf, dass alles wieder besser werden würde. Doch so funktioniert das nicht. Man kann zwar versuchen sich siebzehnmal am Stück Benjamin Button anzugucken, Antifaltencreme auf's Frühstückbrot schmieren und wieder die Bravo abonnieren, doch jünger wird der eigene Körper dadurch nicht mehr. Heute Morgen hatte meine Mutter mich angerufen, da sie ihre Autoschlüssel nicht finden konnte. Ich vermute, dass sie diese beim Studenten aus dem vierten Stock finden würde, der ihr das Auto vor vier Jahren abgekauft hatte, denn sie selber fuhr kein Auto mehr. Das hatte nicht nur mich damals sehr beruhigt, auch die Nachbarskinder durften plötzlich wieder auf der Straße spielen.
In solchen Momenten wird mir oft schmerzlich bewusst, dass meine Mutter eine alte Frau geworden ist. Ich meine, eigentlich ist es doch klar, dass alle Menschen älter werden, doch so richtig glaubt man es erst, wenn man es direkt miterlebt. Ein Herdplattenereignis. Es wurde Zeit, den Weg ins Altersheim in Betracht zu ziehen - der Ort, an dem osteuropäische Einwanderer alte Menschen mit leeren Blicken alle zwei Stunden einmal umdrehen, damit sie sich nicht wundliegen und sogar Kartoffelbrei mit Wasser gemischt werden muss, weil er vielen Bewohnern sonst zu bissfest wäre.
Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg in die örtliche Seniorenresidenz – die Villa Kunterbunt. Mama hatte immer sehr sparsam gelebt, da fand ich es nur gerecht, dass sie sich auf ihre letzten Jahre hin eine solche Unterkunft gönnen darf. Kein Altersheim, sondern eine Residenz – und dann auch noch eine Villa. Meinen Rechnungen zufolge müsste sie allerdings dann bitte auch innerhalb der nächsten sechs Jahre sterben, sonst würde das Ersparte die monatlichen Rentenbeiträge nicht mehr ausreichend ergänzen, um sich das Leben dort zu leisten. Als ich an der Villa Kunterbunt ankam, sah ich auch wieso. Es war ein ganz famoses Grundstück, auf dem diese kunterbunte Villa stand und die Luft roch ein bisschen nach Abenteuer. Als ich auf das Gelände fuhr wusste ich noch nicht, dass dies ein wahrlich wundersamer Tag werden sollte. Schuld daran war Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, die älteste Bewohnerin des Altersheims. So wollte sie zumindest genannt werden, ihren richtigen Namen kannte niemand. Ich hätte eher auf Pippi Thrombosestrumpf getippt, beim Anblick der alten, gebrechlichen Dame, als ich sie das erste Mal sah..

Mach dich nicht lächerlich, Schätzchen

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Agnes war seit 17 Jahren Pflegerin in der Villa Kunterbunt und Pippi Langstrumpf lebte schon mindestens genauso lang hier. So genau wusste niemand, wann sie das Altersheim bezogen hatte - gefühlt war sie schon immer da. "Pippi leidet an hochgradiger Verwirrtheit, vermutlich Alzheimer.", sagte Agnes. Ich nickte und dachte an Mama. Pippi saß im Speisesaal und versuchte einen Altenpfleger dazu zu animieren durch einen Reifen zu springen. Ein suspekter Anblick. "Der arme Herr Nilsson.", meinte Agnes, "Sie hält ihn für ein Kapuzineräffchen. Wir vermuten, dass sie mal einen kleinen Affen als Haustier hatte, wobei - wer mit Kindern hat das nicht.". Sie lachte, also lachte ich auch. Aus Höflichkeit, der Witz wäre es eigentlich nicht wert gewesen. "Nun gut, kommen wir zurück zu ihrer Mutter. Mahlzeiten gibt es hier dreimal am Tag zu den für Senioren üblichen Uhrzeiten - Frühstück um 05:30 Uhr, Mittagessen um 11 und Abendessen um 16 Uhr. Gegen 17 Uhr gehen hier dann bei den meisten die Lichter aus, im hohen Alter reicht die Energie nicht mal mehr für Fernsehmarathons. Zum Ende hin ist die bloße Existenz so ermüdend, dass man das Leben nicht mehr genießen kann, das sage ich ihnen so wie es ist. Aber bis dahin hat ihre Mutter wohl noch ein paar Jahre. Aber gerade wenn das Gehirn schlapp macht, sind die letzten Monate eine Qual. Wenn sie glauben, sie könnten ihre Mutter hier einfach vor einem Fernseher abladen und sie ist damit zufrieden, dass sie jeden Sonntag Tatort und zwischendrin Rosamunde Pilcher gucken kann, haben sie sich geschnitten." Ich entgegnete, dass ich das auch gar nicht vorhabe, worauf Agnes antwortete: "Gut. Die Realität wird dich schneller treffen, als du möchtest. Heute vergisst sie das Sahnetortenrezept, morgen deinen Namen." Nein, dachte ich, meine Mutter würde niemals das Rezept für Sahnetorte vergessen, niemals!
Auf der linken Seite lag der Gemeinschaftsraum. Agnes und ich warteten ein paar Minuten, schließlich sollte gleich eine kleine Runde Gehirnjogging stattfinden. Memory, Puzzles, einfache Ballspiele und Tiefkühltruhen, um die Alten frisch zu halten. Pippi Langstrumpf und Oleg, ein Pfleger, waren bereits vor allen anderen im Raum, weshalb Oleg ein kleines Mathequiz vorschlug. "Okay Pippi, etwas Einfaches – was ist 3x3?" - "2x3 macht 4.", antwortete Pippi, bevor sie sich zu uns drehte: "Oh, wir haben Gäste. Dich kenne ich Agnes, aber wer ist der Mann dort neben dir?". "Ein Besucher.", antwortete Agnes, "Er schaut sich heute die Villa Kunterbunt mal an.". "So alt sehen sie aber noch gar nicht aus. Sie sind doch höchstens 75!", zwinkerte Pippi mir zu. Da ich nicht genau wusste, ob Menschen im Rentenalter noch in der Lage sind ironische Witze zu reißen, sagte ich einfach gar nichts, der Zwinkerer hätte auch eine Zuckung sein können. "Sie erinnern mich an meinen alten Freund Tommy.", sagte Pippi. "Tommy?", antwortete ich und Agnes erläuterte, dass es sich bei Tommy scheinbar um einen ehemaligen Freund handle, gesehen habe ihn hier nie irgendjemand, doch Pippi erzähle in schöner Regelmäßigkeit von ihren Abenteuern mit Tommy und Annika. Und auch diesmal setzte Pippi Langstrumpf zu einer Geschichte an: "Tommy war ein ganz fataler Bursche..". "Famoser Bursche.", unterbrach Agnes sie. "Also Tommy war ein ganz fataler Bursche, mein allerliebster Freund. Annika war meine allerliebste Freundin. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem wir alle gemeinsam einen Heißluftballon gebaut haben, anstatt in die Schule zu gehen. Kleiner Onkel war auch dabei.". "Wie groß war ihr kleiner Onkel denn?", fragte ich. "Ach, höchstens 2,20 m.", sagte Pippi. Ich runzelte die Stirn, Agnes zuckte mit den Schultern und zeigte mir den Vogel - ihrer fetten grobporigen Haut nach eindeutig ein Rotkehlchen. Pippi fuhr fort und erzählte uns, wie sie damals den Heißluftballon, hergestellt aus Tischtüchern und den Unterhemden von Annikas Vater, gebastelt hatten. Nur dreißig Minuten habe es gedauert, schließlich sei sie die schnellste Näherin der Welt gewesen. Agnes verdrehte die Augen und verließ den Raum. Ich wollte ihr folgen, doch kurz bevor ich den Raum verließ, räusperte sich Pippi noch einmal: "Sie glauben mir nicht, richtig? Niemand glaubt mir. Ich mag vielleicht etwas tatterig und vergesslich geworden sein, aber ich weiß ganz genau, dass ich einmal das stärkste Mädchen der Welt war. Meine Geschichten stimmen, und auch wenn Tommy, Annika und Kleiner Onkel nicht mehr hier sind, sollte meine Totenkopfäffchen Herr Nilsson doch der lebende Beweis für meine Erzählungen sein.". "Herr Nilsson ist ihr Pfleger.", antwortete ich. "Mach dich nicht lächerlich, Schätzchen.", entgegnete Pippi.

Erinnern Sie sich?

Ich folgte Agnes den Flur entlang. Sie wollte mir das Zimmer zeigen, in das meine Mutter einziehen würde. 23 Quadratmeter, ein eigenes Bad und der unverwechselbare Geruch alter Leute. Der Raum war perfekt eingerichtet für ebenjene – die Fernbedienung mit extra großen Tasten, Kreuzworträtselhefte lagen auf dem Tisch. Ich hatte nicht anderes erwartet und war doch enttäuscht. Meine Mutter würde den Rest ihres Lebens in diesem Zimmer sitzen und dabei langsam vergessen, wie traurig das doch eigentlich ist. Doch hatte ich eine andere Wahl? Mein Vater war bereits vor einigen Jahren gestorben, konnte sich also nicht um Mama im hohen Alter kümmern. Und ich selber? Bin kurz davor berufsbedingt in eine andere Stadt zu ziehen und bin häufig viel zu sehr mit Trivialitäten beschäftigt, als dass ich Zeit für meine Mutter hätte. Innerlich wusste ich genau, dass ich es im Moment ihres Todes bereuen würde. Hätte ich zwei Mütter, würde ich bei meiner verbliebenen Mutter dann sicherlich alles ganz anders machen. Hab ich aber nicht. Hinweise und Tipps funktionieren bei den meisten Menschen nicht, auch bei mir nicht. Man muss es erst selber erleben, bevor einem klar wird, dass all die Leute, die einem damals "Genieß die Zeit mit deinen Eltern, bevor es nicht mehr geht." sagten, echt Recht gehabt haben. Das gilt für alle Bereiche. "Ein dritter Weltkrieg ist keine gute Idee." - "Tatsächlich, jetzt wo Millionen Menschen gestorben sind und die internationale Staatengemeinschaft zerstört ist, muss ich dir Recht geben, war keine gute Idee.". Von daher fühlte ich mich besser als ich sollte, als ich mich zu Agnes drehte und sagte: "Ein sehr schönes Zimmer. Es wird meiner Mutter bestimmt sehr gut gefallen.".
Wir hörten Schreie aus dem Flur. Agnes eilte aus dem Zimmer und ich folgte ihr zügig. "Lass mich runter!", tönte es aus dem Speisesaal, "Sie soll aufhören! Sagt ihr, dass sie aufhören soll!".
"Sie hat mich in die Luft geworfen, ich schwöre auf alles was mir heilig ist, sie hat mich in die Luft geworfen.", sagte der zitternde Oleg und zeigte in Richtung Pippi Langstrumpf, die auf einem Stuhl saß. Beim Betreten des Speisesaals hatten wir zunächst nichts Ungewöhnliches gesehen, doch Oleg schien sichtlich verstört. Pippi Langstrumpf schmunzelte: "Muss ich noch irgendwem das Konzept von Gravitation näherbringen, bevor ihr anfangt mir zu glauben?". "Oleg, sie sollten für heute Feierabend machen, sie wirken reichlich überarbeitet.", schnaubte Agnes und wandte sich dann Pippi zu: "Und Sie, Frau Langstrumpf, sind bis jetzt jeglichen Beweis schuldig geblieben. Ob es jetzt der angebliche Goldschatz ihres Vaters, das Tiki-Taka-Land oder ihre unfassbare Stärke ist. Es fällt schwer das jemandem zu glauben, der es nicht mal mehr schafft zwei gleichfarbige Socken anzuziehen. Nicht zu vergessen der Vorfall, als Sie das eine Mal versucht haben wegzulaufen und wir Sie in meinem Renault Twingo gefunden haben. Den Sie allerdings nicht gestartet bekommen haben und stattdessen durchgehend Hüüüh, Kleiner Onkel riefen. Sie haben sogar versucht das Auspuffrohr mit einer Möhre zu füttern, Frau Langstrumpf! Erinnern Sie sich?". Pippi Langstrumpf runzelte die Stirn. "Ich erinnere mich nicht, aber wo der Goldschatz meines Vaters ist, das ist mir gerade wieder eingefallen. Kommt mit!", sagte sie und ging sehr sehr langsam aus dem Raum.

Nicht sterben, Frau Langstrumpf

Eine Zeichnung meiner Mutter auf Seite 23 des Fotoalbums

Pippi verließ das Gebäude und ging in den Garten, geradewegs auf den alten Kirschbaum zu. "So.", sagte sie. "Und jetzt?", fragte ich. "Also ich werde ganz bestimmt nicht klettern, das kannst du übernehmen.", antwortete mir Pippi. Ich blickte Agnes an, doch Agnes wich meinem Blick aus und wenn ich ehrlich bin, sah sie auch nicht so aus, als ob sie ein großer Kletterer wäre. "Wie komme ich an den ersten Ast? Gibt es hier eine Leiter?", erkundigte ich mich und Agnes ging zurück ins Haus, um die Leiter zu suchen. "Ach, ich heb dich kurz hoch.", sagte Pippi kaum dass Agnes im Haus war - und hob mich tatsächlich hoch. Beim Allerwertesten, wie konnte das sein!? Ich atmete dreimal tief durch, um dann direkt noch fünfmal tief durchzuatmen. Dann begann ich den Baum hochzuklettern. "Hier?" - "Noch weiter oben!" - "Hier??" - "Noch weiter!" - "Ich wiege 80 Kilo, diese Äste werden mich nicht halten." - "Dann wird der Schatz für immer dort oben bleiben!". Pippi lachte: "Komm runter, du Tölpel, echte Schätze sind natürlich im Boden vergraben, du erinnerst mich nur so sehr an Tommy, wie du da den Baum hochkletterst.". Agnes kam mit der Leiter zurück. "Der Schatz ist scheinbar vergraben.", sagte ich. "Und wieso habe ich jetzt eine Leiter geholt?", schnaubte Agnes. Sie war so süß, wenn sie sauer war. Orca-zerfleischt-Robbe-süß halt. Ich holte einen Spaten und wir begannen am vom Pippi ausgemachten Punkt zu graben. Agnes wurde es nach einer Weile zu viel, sie musste sich um andere Bewohner kümmern. Also grub ich alleine weiter. Nach zwanzig Minuten stieß der Spaten auf etwas festes. Ein Stein. Doch direkt neben dem Stein.. Moment! Eine alte Holzkiste. "Das ist sie, das ist sie!", jauchzte Pippi. "Mein Herz macht das nicht mit, das ist die Truhe!". "Nicht sterben, Frau Langstrumpf.", ermahnte ich sie und holte die Kiste an die Oberfläche.
Scheiße, waren das viele Goldmünzen in der Truhe, durch die Pippi da wühlte. Doch sie suchte nach etwas anderem und kramte schließlich einen ledernen Einband hervor. "Ihr wolltet Beweise? Hier sind die Beweise.", sagte sie und öffnete das Fotoalbum. Ich erkannte die Villa Kunterbunt auf einem der Fotos, vor vielen vielen Jahren. "Die Villa war mein Haus.", erklärte Pippi, "Das hier ist Tommy, das ist Annika und hier - das ist Herr Nilsson. Und das, das bin ich auf Kleiner Onkel.". Kleiner Onkel war also ein Pferd. Und Pippi zwar alt und vergesslich, aber ganz gewiss keine Lügnerin, sondern eine tolle, verrückte, also wirklich verrückte Person. "Pippi? Meine Mutter zieht bald zu dir in diese Villa. Es würde mich freuen, wenn du dich ein bisschen um sie kümmerst.. sie ist alt geworden. Vielleicht könnt ihr ja sogar noch ein Abenteuer gemeinsam erleben, vielleicht einen Heißluftballon bauen." - "Oh ja, aber natürlich, sehr gerne!", sagte Pippi und ergänzte: "Wie heißt ihre Mutter?". "Annika.", antwortete ich. Das war der Moment in dem es Klick machte.


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