Kurzkrimi

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Ein schriftstellerisches Genre, das bis dato ein von Kritikern kaum beachtetes Nischendasein führt, ist der Kurzkrimi. Zum Teil mag das an dem Hauptverbreitungsmedium liegen. Kurzkrimis werden nämlich ausschließlich in Zeitungen abgedruckt, die niemand liest, außer beim Arzt. Dort treten sie an die Stelle von ansonsten verwaisten Plätzen, die eigentlich für Werbeanzeigen vorgesehen waren, die aber niemand aufgegeben hat. Aufgrund dieser Platzhalterschaft ist das Budget für die Erstellung eng bemessen und langt anstatt woanders für eloquente sprachwissenschaftlich diplomierte oder durch Bestsellerwerke arrivierte Feuilletonisten nur für eine 400-Euro-Kraft, die nebenbei noch im Mc Donalds an der Theke schaffen muss.

Anfänge

Der Abenteuerroman erfuhr durch reale Abenteurer wie Karl May, der in seinen Sechzigern endlich die USA bereiste, einen gewaltigen evolutionären Sprung hin zu Qualität, aber auch zu Massenkompatibilität, der hohe Auflagen folgten. Ähnlich verlief es beim Kurzkrimi. Zwar war spätestens seit Shakespeares Zeiten der Boden für Kriminalgeschichten aufgrund der Faszination am Bösen, durch einen unstillbaren Hunger nach der Beschreibung scheußlicher Morde, geheimnisvoller Tatorte und kriminalistischer Kombinationsgabe mit dem unvermeidlichen Sieg des Guten über den Blöden bereitet. Hier brauchte es Praktiker, die ohne erzählerischen Firlefanz und mit bodenständiger Ausbildung dem Mann auf der Straße aus dem Nähkästchen verrieten, wie große und kleine Mordfälle zu lösen sind. Die potentielle Leserschaft war durch scharf begrenzte Intelligenz, Analphabetentum, fehlender oder zu viel Freizeit durch Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wurde ab der Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr Freizeit am Fließband produziert und die Kinderarbeit zu gleichen Teilen für die Schule und Fabrik aufgeteilt. So konnte auch das Analphabetentum spürbar reduziert werden. Dies führte aber nicht zu einem Anstieg von Lesern anspruchsvollerer Literatur, sondern vielmehr für eine stetig wachsende Schar von Anhängern des Gassen- oder Gossenromans - ugs. "Romänchen" genannt.

Die Lage verschärfte sich um 1900, als Sir Arthur Conan Doyle seine Romanfigur Sherlock Holmes hatte sterben lassen, um selbst mehr Zeit für das Lesen von Krimis zu bekommen. Auf dem Markt herrschten deshalb geradezu paradiesische Bedingungen für den Anbieter von Schundliteratur, von Kleinst- und Kurzgeschichten, die wie minderwertige Importkohle schaufelweise in den gierigen Schlund der Masse geworfen, verheizt und verhökert wurden. Diese Win-Win-Situation, durch garantiert tiefe Preise gekennzeichnet, beruhigte sich zwar, hinterließ allerdings auch so etwas wie verbrannte Erde für seriöser arbeitende Schriftsteller. Diese wagten sich nur noch mit Pseudonymen an die Verarbeitung komplexer Stoffe. Es war so ähnlich wie bei den Werbespots, die niemand gedreht haben will.

Anforderungen

Das typische Utensil eines Freizeitkriminologen ist der Kugelschreiber und das perfekte Alibi: ein Kreuzworträtsel in der Nähe!

Wiederholungen im Text sind wegen des nur in wenigen Zentimetern bemessenen Platzes schon fast aufgrund der Natur der Sache ausgeschlossen, obschon sie der Klientel entgegenkämen. Dies wird aber scheinbar durch das Zeichnen einfacher Bilder ausgeglichen. Zusätzlich wird auf sämtlichen Schnickschnack wie einen roten Faden, atmosphärische Dichte und klassische Dramaturgie mit einem gut vorbereiteten Spannungsbogen zugunsten des kostbaren Gutes Raum bei der Zeitung und der zu Verfügung stehenden Aufmerksamkeitsspanne beim Leser verzichtet. Es findet eine Fokussierung niederer Instinkte auf das Wesentliche statt. Auch in Puncto Konsum bestehen viele Ähnlichkeiten zum Pornogucken: schaut einer über die Schulter, so wird man als Hobbyamateur-Kriminologe gerne auf benachbarte, unschuldige Rubriken verweisen. Man gibt die Anhängerschaft nicht gern unverblümt zu: Hardcore eben! Schön ist es aber, wenn man auf Gleichgesinnte trifft!

Dadurch manövriert sich der Kurzkrimi aber nicht unbedingt schon in die Klasse der Leichtgewichte kriminalistischer Literatur, da er den Leser anders als bei esoterischer Lektüre nicht vor die Zigeunerin, sondern selbst vor die Kristallkugel setzt. Er selbst ist der zwielichtige Bekannte, aus dem sich vielleicht noch ein Tipp herausquetschen lässt, der auktoriale Erzähler und der Mitautor. Dank dieses verzweifelten Outsourcings, die Spannung vom Leser selbst fabrizieren zu lassen, könnte für diese Zielgruppe also keine andere Unterhaltung letztlich kontraproduktiver sein, die sich selbst mit dem Nimbus des leichten Konsums ausgestattet hat - mit weitreichenden Konsequenzen für den Leser:

Ja, der Mord

  • fand zwar im Hause des Graf Esterhazy statt,
  • sicher zu einer Zeit, als Graf Esterhazy in seinem Rauchzimmer
    • (wie immer) allein einen Scotch zu sich genommen haben könnte
    • und genug Zeit zum Verwischen von Spuren gehabt hätte
  • und wurde sogar an einem Opfer verübt
    • an dessen Tod Graf Esterhazy Interesse hatte,
    • mit einem Revolver aus dem Besitz Graf Esterhazys

aber dann weiß man eben nur, dass Graf Esterhazy garantiert nicht der Mörder war!!!

Das durch Autoren wie Agatha Christie beliebte "Fallenstellen" oder Necken des Lesers durch das Streuen von Spuren, die in einer Waschküche gärenden Verdachts, vielleicht noch moralischer Schuld für den rechtlich Unschuldigen polizeilich ins Leere laufen müssen, kann im Kurzkrimi nicht nur begrenzt ausgekostet werden, sondern wird meist pervers zu einem banalen Negativbeweis filetiert.

Ja, der Mord

  • fand in Dartmore statt
  • an den kalten Leichenfingern fanden sich Abwehrverletzungen
  • ja, der Gärtner Ken vermisst sein Messer
    • wohnt in der Nähe Dartmores
    • ist ein komischer Vogel (mit 41 noch keine Freundin!!)
    • säuft gern

aber dann weiß man eben nur, dass Gärtner Ken garantiert nicht der Mörder war!!!

Die Motorik des Ratens generiert sich also aus einer starken, scheinbar so offensichtlichen Quelle von Indizien, lässt aber wie ein Sudoku nur den in Differenzen Denkfähigen erfolgreich sein. Der Anfänger wird verzweifelt verdursten, bis er den Text mit der Lösung herumdreht oder eben gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen, was bei zunehmender Routine in einer Art Lotto für Halbintelligente gipfelt.

Mitwirkende

Allen Krimis zu Eigen ist die zwielichtige Atmosphäre, die immer mittels kaputten, geheimnisvollen Typen, aber beispielsweise auf teurem englischem Rasen, die mit Hilfe verrufener Frauen, aber dann mit Kaffeeservicen aus Meißener Porzellan und einem Anstands-Wau-Wau mit zehnstufigem Stammbaum errichtet wird. In diesen typischen Kontrasten, die einander gegensätzliche Extreme beim Aufeinanderprallen immer bilden - dunkelste Abgründe menschlicher Seelen im Widerschein trauten Familienglücks - bricht sich das Licht eben am schönsten.

Folgende Paarungen werden somit als Leitfaden für das Ausschlußverfahren bezüglich des möglichen Täters immer wieder heraufbeschworen. Nur so erzeugt man eine Art Grundspannung:

Spannungsträger 1 Spannungsträger 2
Adlige/r Hausangestellte/r
Detektiv, wahlweise drogen-, alkohol- und tablettenabhängig (nicht Zutreffendes bitte streichen) Prostituierte aus gutem Hause
Kommissar, gewissenhafter Gutmensch, der moralisch einwandfrei für Recht und Ordnung eintritt Vorbestrafter, wahlweise drogen, alkohol- und tablettenabhängig (nicht Zutreffendes bitte streichen)
Kommissar, debiles Arschloch, aber guter Handwerker Vorbestrafter, der sonst moralisch einwandfrei seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat
Junge, hübsche, unschuldige Frau schmieriger Geschäftsmann, Mitte 50, zwielichtiger Typ, Kettenraucher
psychisch kranker Künstler nettes Mädchen von nebenan
Undurchsichtiger Geistlicher Zum jeweils anderen Glauben Konvertierte/r
Reaktionäre Gemeinde schwules Pärchen
Junger, braver Typ, leicht verstrahlt Durchtriebener Vamp, Mitte 40, sexy, aber mit Venentherapie


Zur Würze werden gern noch ein paar Kinder der Marke "verzogenes Heimkind", "Heulsuse", "Mondgesicht" und "Mauerblümchen" verwendet und der einen oder anderen Wirkkategorie zugeordnet. Erst zum Ende des kurzen Spaßes wird man verblüfft feststellen, dass die einst schon zur Kindergartenzeit in einem selbst begründete Weltordnung, dass die Unschuld nichts mit der Schuld, später, dass eine Frau mit waffenscheinpflichtigen Aussehen nichts mit von Sehnenscheidenentzündungen Geschüttelten zu tun haben will, in den Grundfesten erschüttert wird. Der Kurzkrimi lebt davon, dass das fein vorher immer geförderte Bild zuletzt in den Abgrund gestoßen wird. Sobald sich der Vorhang vor dem Bett mit Hure und bemitleidenswert erfolglosen Detektiv lüftet, geht der letzte gute Glaube an die Prostitution des Detektivs, mit diesem Akt im Spezialwissen der Dirne zu recherchieren, in einem Nebensatz passé. Spaß habe es gemacht. Keine Kollaboration. "Warum nicht?", denkt der Daily Soaper, "Warum nur?", der Krimifreak und schon stellt sich ihm die Frage nach dem tieferen Grund der scheinbaren Platzverschwendung.

Taten

Skurile Formen verbinden das Kreuzworträtsel mit dem Kurzkrimi. In Israel nutzt man die zusätzliche Platzersparnis durch die fehlenden Vokale der hebräischen Sprache: alle möglichen Täter stehen auf dem Kopf

Es liegt auf der Hand, dass ein Krimi auf kleiner Fläche umso wirksamere Werbemittel braucht, um sich neben Discountangeboten, Horoskopen, vielleicht anderen Eyecatchern wie dem "Mädchen der Woche" oder den Todesanzeigen durchsetzen zu können. Daher wird sich in der Regel aus dem Sammelsurium möglicher Kapitalverbrechen bedient: Mord und Todschlag. Bei besonders mutigen und experimentierfreudigen Autoren finden sich schon mal Banküberfälle mit Geiselnahme (wird dort später meist abgekürzt).

Man stelle sich vor, der Kurzkrimi berichtet über einen unverschämten Fall von milliardenschwerer Bilanzfälschung unter dreister Umgehung des Prinzips der Bilanzwahrheit und -kontinuität oder der flächendeckenden Verschmutzung eines naturnahen Biotops gemäß Wasserhaushaltsgesetz in der Fassung vom 31. Juli 2009. So etwas funktioniert natürlich nicht.

Lösung = Höhepunkt

Erst zum Schluss wird heiser gelacht: Lord Esterhazy machte zum Zeitpunkt des Todes eine Weltreise. Gärtner Ken kann lt. psychiatrischem Gutachten kein Blut sehen. Das sind die Facts, die einem in den vorletzten Sätzen um die Backen geschlagen werden. Angesichts der geringen Restmenge wird einem verzweifelt klar, dass man offensichtlich den Text nicht verstanden hat. Man versteht nicht, dass man dies überhaupt nicht sollte! Panisch nimmt man vor dem Aufruf in der Arztpraxis, im selbst auferlegten Zeitdruck, im dramatischen Sog der Ereignisse, die man plötzlich in sich zugespitzt findet, die wenigen vorherigen Zeilen noch einmal unter die Lupe. Passagen treten in Luftblasen leerer Gedanken zutage: "Keller - Leiche des Mieters - arbeitslos - Messer - Taschentuch mit Initialen - von Frau verlassen - mit Vermieter durchgebrannt - Lebensversicherung". Auch die persönliche Zeit ist abgelaufen. Nie wird man es klären können. Es sei denn, man dreht den Spieß um und liest, dass es der Vermieter nicht sein konnte, weil der ja kein Linkshänder ist und nur diese das Messer so führen: VERLOREN!! Doch wo steht wenigstens, dass er kein Linkshänder war? Wo ist der Hinweis für das Gutachten und wo liegt das Ticket für die Weltreise herum? Man fischt im Trüben. Man hofft nicht auf den Fehler des Mörders, sondern auf den des Autoren zur persönlichen Ehrenrettung. Schade, es stand gleich am Anfang. Wie spannend!


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